piwik no script img

„Nur eine linke Gesellschaft ist liberal“

„Wir wollen doch dafür sorgen, dass die Menschen in der Lage sind, sich selbst als Individuen zu denken, nicht als Kollektive“

MODERATIONDIRK KNIPPHALS

Es gibt doch dieses T-Shirt, auf dem Angela Merkel als Che Guevara abgebildet ist. Verspürt man dabei nicht einen kleinen Stich im Herzen? Haben da die falschen Leute nicht etwas gestohlen?

Bettina Gaus: Nein, bei mir gibt es keinen Stich. Dass Che Guevara seit vielen Jahren eine Popikone geworden ist, auch bei Leuten, die gar nichts über ihn wissen, ist keine Neuigkeit. So furchtbar emotional betrachte ich meine politische Einstellung im Übrigen auch gar nicht.

Die Ausgabe, in der dieses Gespräch erscheint, wird mit Che Guevara durchbebildert.

Bettina Gaus: Hübscher Einfall, ändert aber an meiner Antwort nichts.

Jan Feddersen: Che Guevara? Gruselig. Ich hätte eine Illustration mit Hannah-Arendt-Fotos glücklicher gefunden. Es gibt für mich linke Erbschaften, die diejenigen, die Linkssein immer noch als identitäres Projekt verfolgen, gerne weiterhin begraben sähen. Aber diese Leichen muss man sich noch einmal gut angucken, und der Che-Guevarismus gehört mit Sicherheit dazu. Unter dem Regime eines Che Guevara, oder wie diese linken Heiligen auch alle heißen, möchte ich mit Sicherheit nicht leben. Die antitotalitaristische Tradition einer Hannah Arendt halte ich für mehr weiterbringend.

Ulrike Winkelmann: Ach, man muss sich mit solchen Abstrakta gar nicht so groß auseinander setzen. Deswegen verspüre ich auch nicht Jans Drang, Mythen zu entschleiern oder linke Tabus zu brechen. Che Guevara hin oder her, es gibt in der gegenwärtigen Situation so viel konkretes Linkes zu sagen und so viel konkretes Ungerechtes anzuprangern.

Felix Lee: Vor zehn Jahren hatte ich Che noch an meiner Zimmertür hängen. Mittlerweile berührt es mich nicht einmal, wenn Nazis Che-Guevara-T-Shirts tragen. Es war in den 80er- und 90er-Jahren eine Schwäche der Linken, dass sie sich so stark mit Jugendkultur identifiziert hat und dann eben auch von Popmythen lebte. Das ändert sich aber inzwischen. Ich beobachte, dass die Linke sich nun vermehrt aus dem Gefühl heraus definiert, dass viele Entwicklungen in dieser Gesellschaft so nicht weitergehen.

Bettina Gaus: So sehr hat sich meine Definition von links nicht geändert in den letzten Jahren. Links zu sein verbindet für mich aus der Aufklärung stammende emanzipatorische Ansprüche der Individuen mit einer starken Betonung der Solidargemeinschaft und der kollektiven Fürsorge für Lebensrisiken. Und es gibt etwas, was ich definitiv nicht für links halte: Das ist die Vorstellung, es gäbe eine virtuelle vernünftige Lösung für alle gesellschaftlichen Probleme, die auch alle Menschen einsehen werden, wenn sie nur lange genug nachdenken würden. Diese Vorstellung kleistert ganz altmodische Interessengegensätze zu – zum Beispiel zwischen denjenigen, die Kapital haben, und denen, die es nicht haben.

Ulrike Winkelmann: Mir geht es genauso, was die Feindbilder angeht. Auch da möchte ich nichts zugekleistert haben. Ehrlich gesagt: Je länger ich arbeite, desto mehr Feindbilder habe ich. Ich habe neue, frische, großartige Feindbilder.

Welche?

Ulrike Winkelmann: Also, es gibt das Böse.

Im Ernst?

Ulrike Winkelmann: Natürlich gibt es das, auch wenn ein bestimmter Teil der Linken meint, dass die Feindbilder allgemein am Verschwimmen sind. Mein Feindbild jedenfalls ist das Böse, und das Böse will mehr Geld, obwohl es schon sehr viel Geld hat, und das Böse will es von den Menschen, zu denen ich mich aber nicht so gerne rechnen möchte. Wenn man nur einmal meinen konkreten journalistischen Arbeitsbereich der Gesundheitspolitik nimmt: Es gibt in der Bundesrepublik eine breite Phalanx von gut verdienenden, privat krankenversicherten Menschen, die nichts anderes wollen, als ihre eigenen Privilegien weiter auszubauen.

Felix Lee: Ich meine auch, dass es diesen Feind gibt, glaube aber nicht, dass er so leicht ausfindig zu machen ist. Gerade in der Globalisierung gibt es dermaßen viele Akteure und Faktoren, dass die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft nicht einfach auf eine böse Frau Merkel oder einen bösen Herrn Bush abzuwälzen ist.

Bettina Gaus: Ja, aber weil man schlechte Entwicklungen über Personen definiert, heißt das noch nicht, dass man sie darauf reduziert. Es gibt durchaus Politiker, internationale wie deutsche, von denen ich sagen würde, dass sie eine Politik der Umverteilung von oben nach unten vertreten, ein autoritäres Staatsverständnis haben und wenig Sinn für Menschen- und Bürgerrechte an den Tag legen.

Ulrike Winkelmann: Zum Stichwort Globalisierung muss noch angefügt werden, dass Globalisierung und Linkssein keine Gegensätze sind. Ein gerechtes Bildungssystem ist globalisierungstauglich. Unser jetziges Bildungssystem ist ungerecht und nicht globalisierungstauglich. Das kann man für alle gesellschaftlichen Bereiche durchdeklinieren: Ein ineffizientes Zwei-Klassen-System durchzuziehen ist definitiv nicht globalisierungstauglich.

Einen US-Präsidenten wie George Bush hätten viele Linke früher als Charaktermaske des Kapitals bezeichnet.

Bettina Gaus: Ich bin offensichtlich viel radikaler, als ich von mir gedacht habe. Ich würde diese Worte nicht verwenden, aber ich glaube …

Ulrike Winkelmann: … Bush ist ein Interessenvertreter des Kapitals.

Bettina Gaus: Genau.

Jan Feddersen: Hier muss ich einhaken. Mir ist dieser Sound selbstverständlich vertraut und dieser Furor auch. Meinetwegen können wir uns sogar darauf einigen, dass es das Böse gibt. Für mich sind das aber eher die religiösen Mächte – und sei es die Erzählung vom Sozialismus –, die im Namen früheren Autoritäten Politiken begründen wollen. Außerdem glaube ich wie Ulrike, dass man sich von raffgierigen Menschen fern halten soll. Aber ich habe nicht das Gefühl, das Böse ständig in mir rekapitulieren zu müssen.

Ulrike Winkelmann: Im Sinne von Sonntagsreden ist das wirklich überflüssig. Aber das journalistische Tagesgeschäft muss doch sein, Gerechtigkeit im Hier und Jetzt nach Möglichkeit herbeizuschreiben, wenn nicht gerade sofort herzustellen. Es geht darum, dass ganze Teile der Bevölkerung nicht mehr an dem teilhaben sollen, was wir für eine Grundvoraussetzung zur Teilhabe halten, zum Beispiel Bildung. Es ist inzwischen auch der SPD abhanden gekommen, dass sie das Schulsystem grundlegend reformieren möchte. Das sind doch Dinge, die man links sehen muss.

Jan Feddersen: Ich bin wie du und auch Felix der Meinung, die Welt muss unbedingt besser werden, ganz bestimmt. Jeden Tag und für die nächsten fünf Millionen Jahre. Wenn ich das noch überblicken könnte, wünschte ich mir eine Welt, die im Prinzip so zivilisiert, so durchsozialdemokratisiert ist wie im Moment die mitteleuropäische und in Sonderheit die deutsche. Das wäre für mich ein richtig linker Erfolg. Sozialismus dagegen wäre kein linker Erfolg, weil das in der Regel totalitäre und erziehungsdiktatorische Regime gewesen sind.

Felix Lee: Bei den sozialistischen Regimen sind wir uns alle einig, die möchte keiner mehr. Aber es muss Regeln geben, die die gesellschaftlich Schwachen schützen. Damit es die Regeln geben kann, muss es staatliche Strukturen geben. Das halte ich für ein zentrales linkes Anliegen. Während im Liberalismus der Trend zur Privatisierung geht, gehört zum Linkssein die Ansicht dazu, dass es Dinge gibt, die der Allgemeinheit gehören und auch so behandelt werden müssen.

Bettina Gaus: Zum Beispiel Wasser.

Jan Feddersen: Aber das haben wir vom Telefon auch mal gesagt, und was war das Ende vom Lied? Telefone sind unterm Strich billiger denn je, und wir kommunizieren übrigens auch mehr denn je.

Bettina Gaus: Die Tatsache, dass es bestimmte Dinge gibt, die vernünftigerweise in Privathand sind, ist die eine Sache. Aber ich würde Felix in der Tat völlig zustimmen, wenn er sagt, dass Privatisierung kein Wert an sich ist. Es ist ein zentrales linkes Anliegen, dass bestimmte Grundbedürfnisse eben nicht privatisiert werden beziehungsweise dort, wo sie privat sind, unter Umständen subventioniert werden müssen. Da sind wir beim Thema Gesundheit, wie immer die konkret organisiert ist, beim Thema der Unterstützung von sozial Schwachen, der Behindertenpolitik und so weiter.

Jan Feddersen: Selbstverständlich ist es Aufgabe des Leviathan, Grenzen zu ziehen. Also das, was Bush in New Orleans gerade extrem versäumt hat. Im Grunde hätte er innerhalb von 36 Stunden, bildlich gesprochen, seine Flugzeugträger hinschicken müssen, um den Menschen zu helfen. Nichts anderes wäre sein Job gewesen. Da gebe ich Felix vollkommen Recht. Die Frage ist nur, ob Neoliberalismus als Feindbild taugt. Das glaube ich nämlich nicht.

Ulrike Winkelmann: Es geht doch nicht darum, ob ich den Neoliberalismus als solchen definieren, zum Feindbild erklären, an die Wand hängen und dann anprangern kann. Sondern es geht darum, dass wir es mit sehr gut organisierten Kräften zu tun haben, die dafür sorgen wollen, dass öffentliche Dienstleistungen privatisiert werden, zur Ware gemacht werden und dass sie auf diese Weise der Bevölkerung langfristig entzogen werden.

Jan Feddersen: Zugegeben, meinetwegen könnte es sogar noch Hartz V bis VII geben, aber nur, wenn die eingesparten Milliarden nicht in einen amorphen Haushalt gehen, sondern so was von straight mit einer guten Idee nach Neukölln, in den Wedding, ins Schanzenviertel, nach Mülheim in Köln und wie diese proletarischen und multikulturellen Viertel alle heißen. Man müsste anerkennen, dass ihre Verwahrlosung derzeit Ergebnis der aktiven Politik ist. Und man müsste das ändern wollen. Im Prinzip bräuchte man einen spirit wie in den Sechzigerjahren, dass man sagt: Wir haben hier Proleten, und da müsste die Kohle rein, denn das sind Leute von uns, scheißegal wo die herkommen. Es ist Staatsaufgabe, sich um die zu kümmern, das wäre dann übrigens auch ein linkes Projekt, bei dem ich mitmache.

Felix Lee: In einem bestimmten Punkt stimme ich Jan zu. Noch eine Schwäche der Linken in den 90ern war, dass es wenig Utopien gab, und wenn es sie gab, hatten sie keinen guten Ruf. Heute jedoch werden bereits ganz konkrete Maßnahmen als weltfremd empfunden, die so revolutionär gar nicht sind, zum Beispiel die Einführung einer Spekulationssteuer. Ich empfinde es als Problem, dass es Utopien nicht gibt, halte es aber zugleich für einen richtigen Schritt, an konkreten Maßnahmen anzusetzen.

Bettina Gaus: Ich glaube, man sollte das Stichwort Privatisierung mit dem Stichwort Staat zusammenbringen. Die Vorstellung, der Staat sei nur noch für Sicherheitsfragen zuständig, setzt sich in unerträglichem Maße durch. Seine Leistungen werden inzwischen als Wohltaten verächtlich gemacht, die nur als Wahlkampfgeschenke dienen. Dieses Bild von einem im Prinzip zu Recht verarmenden Staat halte ich für das Gegenteil von links. Dabei geht es, da gebe ich Jan Recht, um Neukölln, aber nicht nur. Es ist doch auffallend, wie sehr unsere Infrastruktur insgesamt zu bröckeln beginnt – wenn man sieht, wie die Schulen aussehen, wie viele öffentliche Schwimmbäder geschlossen sind, wie viele Büchereien kein Geld mehr für Neuanschaffungen haben. Ich wundere mich dann über die Vorstellungen von einem Staat, dem es gar nicht zusteht, dem Bürger sein sauer verdientes Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich halte es für ein genuin linkes Anliegen, dieser Vorstellung entgegenzutreten, notfalls übrigens gerne mit dem Aufruf für Steuererhöhungen, und zwar nicht der indirekten, sondern der direkten Steuern.

Dass man den Staat braucht, um Strukturen aufrechtzuerhalten, ist eine Erzählung, die man in unseren Kreisen oft hört. Die Gegenerzählung ist dann immer, dass der Staat die Eigeninitiative seiner Bürger behindert.

Ulrike Winkelmann: Aber das ist doch ein SPD-Mythos! Es ist eine Lüge, dass sich jetzt um die Menschen wesentlich mehr und besser gekümmert werden könnte als vorher mit der Sozialhilfe. Es gab schon immer Projekte zur Aktivierung auch der Sozialhilfeempfänger.

Bettina Gaus: ABM-Programme, nur zum Beispiel.

Jan Feddersen: Ja, aber die haben doch nichts genützt.

Bettina Gaus: Wer sagt denn das?

Jan Feddersen: Nehmen wir die Gesundheitspolitik. Selbstverständlich gehört es zur Idee – und ich halte sie für eine linke Idee – der weitgehenden Selbstinitiative, sich um Gesundheit selbst zu kümmern.

Bettina Gaus: Wieso hältst du das für eine linke Idee?

Jan Feddersen: Wir wollen dafür sorgen, dass die Menschen in der Lage sind, sich als Individuen zu denken, nicht als Kollektive.

Gaus: Ah, jetzt streiten wir richtig. In die gesellschaftlichen Debatten ist zuletzt eine Rhetorik reingekommen, die ich für vernebelnd halte. Ich habe nie begriffen, warum meine Individualität leidet, wenn ich in Sozialsysteme einzahle, die sowohl andere Menschen als auch mich vor den großen Lebensrisiken Armut und Krankheit schützen. Links sein bedeutet wechselseitige Kollektive, Verantwortung füreinander. Das beschneidet keineswegs die Eigenverantwortung.

Jan Feddersen: Ich behaupte nach wie vor, dass die Freiheit wichtiger ist als das Soziale. Weil erst die Freiheit das Soziale zu organisieren vermag. Man blicke einmal nach Afrika. Ein Gutteil der despotischen Geschichten dort ist doch nicht durch den so genannten US-Imperialismus erklärbar.

Bettina Gaus: Einem Satz von dir, Jan, möchte ich gern grundsätzlich widersprechen, weil sich damit sehr schön ein fundamentaler Gegensatz herausarbeiten lässt. Du sagst, die Freiheit macht erst das Soziale möglich. Ich würde es genau umgekehrt definieren: Das Soziale ist die Voraussetzung, um überhaupt Freiheit entstehen zu lassen.

Jan Feddersen: Das war der Unterschied zwischen BRD und DDR.

Bettina Gaus: Na ja, wir müssen ja in beidem nicht so radikal werden.

„Mein Feindbild jedenfalls ist das Böse, und das Böse will mehr Geld, obwohl es schon sehr viel Geld hat“

Muss eine gerechte Gesellschaft links sein?

Ulrike Winkelmann: Selbstverständlich.

Um konkret zu sprechen: Hilft links zu sein bei der Entscheidung zwischen Bürgerversicherung und Kopfpauschale?

Ulrike Winkelmann: Das ist eine schwierige Frage, weil es sich hier um komplexe Systeme handelt, die neu eingeführt werden sollen, also nicht an die gegenwärtige Erfahrung dessen andocken, was wir im Allgemeinen unter links verstehen. Aber ich glaube schon, dass man sie auf links beziehen kann. Bei der Bürgerversicherung werden solche Menschen, die jetzt in dem privilegierten System für bessere Leistungen weniger Geld bezahlen müssen, nämlich in der Privatversicherung, mit herangezogen zur Sicherung der Gesundheit aller. Das heißt, ich nehme Leuten, denen es gut geht, etwas weg, damit es denen, denen es schlecht geht, besser geht. Und das ist links. Bei der Kopfpauschale vermute ich das Gegenteil.

Bettina Gaus: Man sollte eben nicht völlig aus dem Blick verlieren, dass links immer ein Abwehrkampf gegen ein gefräßiges Kapital war. Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime war das Linke stark diskreditiert und hat, gerade in Europa, eine schwere Identitätskrise durchgemacht. Aber nach meinem Eindruck verschiebt sich wieder das Verständnis. Um ein altes Bonmot zu benutzen: Dass einzig der Kapitalismus übrig geblieben ist, bedeutet noch lange nicht, dass die sozialen Errungenschaften nun obsolet geworden sind. Insofern wird im Moment der linke Abwehrkampf mit neuer Kraft geführt.

Jan Feddersen: Eine Ergänzung möchte ich an diesem Punkt machen. Eine gerechte Gesellschaft zu haben bedeutet ja mindestens mal, eine nicht despotische Gesellschaft zu haben. Und wenn man im Dahrendorf’schen Sinne nicht links, sondern sozialdemokratisch sagt, dann ist das in allen westlich orientierten Gesellschaften auch verwirklicht. Selbst die lateinamerikanischen Staaten sind mehr oder weniger erfolgreich auf einem antidespotischen Weg. Gut, gerade gibt es in Brasilien mit Lula Friktionen. Es ist ja bekannt, dass auch Linke korrupt sein können. Aber so ist die Welt nun mal, und das ist im Moment gerade nicht mein Problem. Wichtig ist, die Gesellschaft muss in sich als antidespotisches Moment eine multikulturell verstandene Gerechtigkeit denken. Und das Linke ist mir im Prinzip vollständig egal. Über diesen Begriff spricht man nicht zur Sache, sondern immer über Identitäten.

Muss eine Gesellschaft, die Schwule und Lesben selbstverständlich einschließt, die Ausländer ernst nimmt und unseren Buntheitsstandards entspricht, links sein?

Jan Feddersen: Liberal muss sie sein, das ist der Punkt. Natürlich macht die Differenz zwischen einer rigiden konservativen Mentalität und einer liberalen Mentalität gesellschaftlich den Unterschied ums Ganze. Aber das hängt nun nicht an Begriffen wie sozialdemokratisch oder auch links. Da spielt viel mehr rein, was man etwa an der Differenz zwischen Norwegen und Schweden sieht – die schwedischen Sozialdemokraten tragen das Liberale in sich und haben dennoch pietistische Traditionen, die gruselig sind.

Felix Lee: Die Gesellschaft muss links sein, um wirklich liberal sein zu können.

Bettina Gaus: Ich glaube, dass eine nicht linke Gesellschaft nicht gerecht sein kann. Ich glaube allerdings auch, dass eine nicht linke Gesellschaft relativ vorurteilsfrei sein kann gegenüber vielen unterschiedlichen Lebensformen. Aber in dem Moment, in dem es konkret wird und die Fragen von Verteilungsgerechtigkeit und Verteilungsbereitschaft im Raum stehen, geht es auch wieder um ökonomische Zusammenhänge. Das betrifft die Fragen: Wie gehen wir mit Asylbewerbern um? Welche Sozialleistungen können auch Ausländer bei uns in Anspruch nehmen, unter welchen Bedingungen? Da geht es dann nicht darum, ob wir begeistert beim Karneval der Kulturen mittanzen. Sondern um die Frage, wie viel eine Gesellschaft zu teilen bereit ist mit Menschen, die nicht dem entsprechen, was die breite Mehrheit als gesellschaftliches Gesamtbild von sich hat. Und da wird es links.

Jan Feddersen: In diesem Punkt stimme ich zu. Es gibt das liberal Selbstverständliche, das Linke kommt aber erst hinzu, wenn man etwa bildungspolitische Ansprüche stellt. Sonst bist du sofort in den USA, wo die Neokonservativen schon vom Selbstverständnis her multikulturell sind. Aber sie nehmen die Slums sozusagen nur zur Kenntnis, interessieren sich nicht weiter dafür und organisieren den Rest über einen missverstandenen Begriff von Eigeninitiative. Links wird es da, wo man sagt: Wir müssen jetzt Kohle haben, um ganz genau diese Gebiete wieder sozial lebbar zu machen.

Ulrike Winkelmann: Dafür brauchst du gar nicht in die USA zu gehen. Es gibt in Deutschland Horden von liberalen Menschen, die just zur Einschulung ihres eigenen Nachwuchses bemerken, dass sie ihren Kindern die staatlichen Schulen nicht zumuten können. Anstatt die Schulen zu reformieren, schicken sie ihre Kinder auf Privatschulen.

Bettina Gaus: Oder die Menschen, die sich vorurteilsfrei bei der sexuellen Orientierung geben. Erst bei den Fragen, ob es in solchen Lebenspartnerschaften auch Erbansprüche gibt, ob Sozialhilfe angerechnet wird, wird es konkret. Da wird es links und geht übers Liberale hinaus.

Jan Feddersen: Bei schwullesbischen Themen kann man allerdings nicht immer Links-rechts-Schemata verifizieren. Beim Adoptionsrecht etwa und den Fragen, ob ein Kind gemischt geschlechtliche Eltern braucht oder vielleicht ja doch nicht, gehen die Fronten quer durch alle Lager.

Finden sich unsere Diskussionspunkte bei den linken Bewegungen wieder?

Felix Lee: Die Hauptveränderung ist: Es gibt diese Ein-Punkt-Bewegungen nicht mehr, die sich mal mit Atomkraft, mal mit Flüchtlingen beschäftigt haben. Was breiter ins Bewusstsein dringt, ist, dass soziale Grundsicherungen da sein müssen, bevor man sich mit kulturkritischen und gesellschaftspolitischen Dingen überhaupt beschäftigen kann. Das ist der Punkt, bei dem ich die Grünen kritisieren würde – im Grunde kann man nur grün sein, wenn ein gewisser Standard bereits erreicht ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen