: „Identitätspolitik ist eine Katastrophe“
INTERVIEW ARAM LINTZEL
taz: Herr Buergel, Sie sind der Kurator der documenta. Würden Sie Ihre Arbeit als „links“ bezeichnen?
Roger M. Buergel: Bei den Ausstellungen, die ich mit meiner Partnerin Ruth Noack gemacht habe, gab es ganz klar immer eine emanzipatorische Agenda. Ich halte die Rede von Kunst und Politik aber für ein Missverständnis. Es geht bei Kunst, die um einen politischen Anspruch konkurriert, in Wirklichkeit um ein Wahrheitsmoment …
… Kunst zapft andere Referenzsysteme an und sucht sich eine Wirkungskraft, indem sie die politische Realität zu ihrem Material macht?
Ja, das Verhältnis von Kunst und Politik ist heute dem Verhältnis von Kunst und Natur im 18. Jahrhundert ähnlich. Es besteht ein Konkurrenzverhältnis, bei dem es darum geht, ein Kriterium für Authentizität und Eigentlichkeit zu gewinnen. Und dieses Kriterium wird im Moment über den Politikbegriff hergestellt. Kunst holt sich die eigene Relevanz über politische Themen. Das hat mit Politik nicht viel zu tun, das ist in hohem Maße rhetorisch.
Diese Kompetenzerweiterung des Künstlers, sich durchaus anmaßend für politische Fragen zuständig zu erklären, war ursprünglich ja nicht als Authentizitätsstrategie gedacht, sondern als eine emanzipatorische Behauptung. Ist sie das heute nicht mehr?
Ich sehe diese Kompetenzerweiterung kritisch. Als wir 2000 in Wien die Ausstellung „Dinge, die wir nicht verstehen“ gemacht haben, ließ sich deutlich beobachten, dass es in Österreich, dieser damals sterbenden Sozialdemokratie, massive staatliche Anreize für KünstlerInnen gab, symbolisch wohlfahrtsstaatliche Agenden zu übernehmen, sich etwa um Drogenbenutzer oder Arbeitslose zu kümmern. Um Menschen, die eigentlich in die Agenda des Staates gehören, von der sich die Regierung aber soeben verabschiedet hatte.
Politik wird quasi an Künstler „outgesourct“. Wie kann Kunst, die politisch sein will, sich dem versperren?
Ich habe keine Strategie. Das geht nur über Subtilität. Man muss einfach sehr genau schauen, was KünstlerInnen tun, um diese Widersprüche und Komplexitäten zu formalisieren. Das ist auch eine Frage ästhetischer Disziplin. Sonst verpufft der gesellschaftspolitische Ansatz ganz schnell.
Kunstrichtungen, die solche Komplexitäten verhandeln, sehen sich derzeit mit einem neokonservativen Appell konfrontiert. Im Namen von „Sinnlichkeit“ und „Schönheit“ wird konzeptuelle und diskursive Kunst als zu „theorielastig“ und „elitär“ gebrandmarkt.
Dieses Theorieressentiment ist ein großes Problem, weil Kritik der Boden unter den Füßen weggezogen werden soll. Andererseits sehe ich bei vielen KünstlerInnen, die konzeptuell arbeiten und sich einer emanzipierten Agenda verpflichtet fühlen, dass sie keine Angst mehr haben, Affekte zu produzieren. In der Vergangenheit konnte man besonders bei KünstlerInnen aus linken Szenen beobachten, dass es eine große Angst davor gibt, Fehler zu machen – aus Angst vor Irrationalismus. Wenn man aber Affektivität ins Spiel bringt, produziert man immer Effekte, die sich nicht kontrollieren lassen. Für mich sind Sinnlichkeit und politische Emanzipation deshalb kein Widerspruch. Gerade in einem politisch-emanzipatorischen Sinne ist es wichtig, das Publikum dazu zu bringen, Fragen zu stellen. Das ist aber nicht zu schaffen, wenn man die Leute mit Wissen zuschüttet oder totquatscht.
Neben „Bildung“ und „Die Moderne ist unsere Antike“ soll „bloßes Leben“ eine Leitidee der nächsten documenta werden. Sie beziehen sich damit auf Walter Benjamin und Giorgio Agamben. Was ist mit „bloßes Leben“ in Bezug auf Kunst gemeint?
Es gibt derzeit viele KünstlerInnen, die sich mit dem Lebensbegriff befassen, mit dem einfachen Faktum, dass wir sterblich sind. Diese Konfrontation mit der Sterblichkeit im Medium der Kunst ist ein wichtiges Motiv, um Gesellschaft denken zu können. Das politische Sicherheitsdispositiv, das momentan Konjunktur hat, suggeriert den Menschen, dass es eine Struktur gäbe, die sie mehr oder weniger unsterblich macht. Dies hindert die Menschen daran, sich mit ihrer eigenen Existenz zu konfrontieren. Außerdem gibt es KünstlerInnen, vor allem aus Osteuropa, die sich mit traumatischen Umbrüchen befassen – mit Krieg und mit der Erfahrung, dass einem ein politisches System über Nacht sämtliche Rechte raubt.
„Bloßes Leben“ als Chiffre für politische Krisenerfahrungen?
Ja. Gleichzeitig ist es aber auch ein Begriff, der sich für Freiheiten öffnet, für einen bestimmten Lyrismus der menschlichen Existenz, für die Möglichkeit einer Ungebundenheit gegenüber Systemen. Meist wird das Subjekt – insbesondere in politisch emanzipatorischer Kunst – als determiniert erfahren. Das stimmt natürlich, Voluntarismus ist das Letzte. Aber es gibt einen kleinen Anteil des nicht Determinierten – und der ist mir wichtig. „Bloßes Leben“ hat für mich nicht, wie bei Agamben, nur eine apokalyptische Bedeutung, sondern es weist auf eine Potenzialität.
Auf diese Freiheit des künstlerischen Subjekts deutet auch ein Satz von Ihnen hin: „Der Markt ist marginal.“ Verkennt das nicht den Wettbewerbsdruck, dem Künstler ausgesetzt sind?
Ich wollte mit diesem Satz ausdrücken, dass der Markt bestimmte künstlerische Arbeitsweisen nicht abbilden kann. Was auf dem Markt gehandelt wird, muss Warenform haben. Es gibt aber viele künstlerische Arbeiten, die sich einer Verwertungslogik zu entziehen versuchen.
Stößt der Kunstmarkt tatsächlich an die Grenzen der Verwertbarkeit?
Es gibt unterschiedliche Strategien, Warenförmigkeit zu unterlaufen. Die Sachen können zum Beispiel zu teuer sein. Das ist eine Möglichkeit, sich zu schützen und dem Kapitalismus zu widerstehen. Daneben gibt es weiterhin konzeptuelle Arbeiten, bei denen nicht klar ist, wo jetzt das Werk eigentlich genau ist. Zugleich ist der Markt natürlich unendlich flexibel. Es gibt kaum mehr eine wichtige Kunstmesse, die keine Diskursprogramme hat. Messen sind ja die Knotenpunkte des Kunstmarktes, und da werden jetzt auch kritische Diskurse integriert, was oft auf eine Schaunummer hinausläuft.
Was setzen Sie, was setzt die documenta einer solchen „Spektakelkultur“ mit Diskursabteilung entgegen?
Bildung und Vermittlung heißen für mich eben nicht, dass man den Leuten Information verabreicht, die sie sich dann leicht zuführen können: „Aha, das ist ein Künstler aus Afrika, der kommt aus diesem Krisengebiet!“ … Ich will über Formate nachdenken, mit denen sich etwas vermitteln lässt, ohne Identitäten und Einschlüsse zu produzieren. Das Moment der Unentscheidbarkeit – ist es nun Wissen oder nicht? – ist sehr wichtig, damit das Publikum sich selbst entscheiden kann, ob es etwas den Status von Wissen zubilligt. Ohne diesen Entscheidungsraum gibt es kein politisches Element, dann hat man nur eine Horde von Idioten, die man durchschleust und die vielleicht etwas gelernt haben. Aber so entsteht keine Partizipation, keine „Massenintellektualität“.
In den letzten Jahren gab es in bildender Kunst eine starke Beschäftigung mit identitätspolitischen Fragen – nicht zuletzt auf der documenta 11. Wie stehen Sie dazu? Skeptisch?
Ich glaube, dass wir nicht darum herumkommen, uns auf einen planetarischen Horizont zu beziehen – im Sinne einer interkulturellen Wertediskussion. So lässt sich auch das obszöne Ungleichgewicht zwischen reichen und armen Ländern angehen. Deshalb halte ich Identitätspolitik für eine Katastrophe. Gleichzeitig ist mir klar, dass Identitätspolitik von politisch unterdrückten Minderheiten eine Notwendigkeit ist. Es hat keinen Sinn, von diesen Gruppen Konsensualismus einzufordern, weil sie dabei nur verlieren können. Ich glaube aber, dass man mit Kunst und ästhetischer Erfahrung eine Vermittlung hinbekommen kann: einerseits singulär sein, auf eine konkrete Agenda pochen, und gleichzeitig deutlich machen, dass diese Lokalität eine universale Verbindlichkeit beansprucht.
Aber eine ortsspezifische künstlerische Praxis ist nicht mehr angemessen?
Nicht generell. Was ich aber beobachte, ist, dass zum Beispiel bei der Liverpool Biennale das ursprünglich progressive Element der Ortsspezifik komplett reaktionär geworden ist. Es wird von einer aggressiven Stadtvermarktung in Dienst genommen, KünstlerInnen werden dazu verdonnert, etwas über Liverpool zu machen. Gegen solche Zumutungen gilt es eben keine lokalen Identitäten zu fixieren, die sich dann inkorporieren lassen. Ich glaube, Félix Guattari hat das einmal so definiert: Links ist prozessual, und rechts ist Fixierung.
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