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Schwere Wellen

Auch an Nord- und Ostsee können Tsunami-ähnliche Phänomene auftreten. Der Hamburger Mathematiker Jörn Behrens will sie mit einem Simulationsmodell voraussagen

Tsunami-Frühwarnsystem für Indonesien: Der Mathematiker Jörn Behrens hat es mit seiner damaligen Arbeitsgruppe am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven entwickelt Foto: dpa

Von Gernot Knödler

Eine Wasserwand, die sich scheinbar aus dem Nichts auf spiegelglatter See erhebt – das ist ein Phänomen, das es nicht nur im Pazifik oder dem Indischen Ozean gibt. Am 15. Juni 1964 berichtete das Hamburger Abendblatt von einer „meterhohen schwefelgelben Flutwelle“, die tags zuvor bei völliger Windstille auf den Strand der Insel Sylt traf und Hunderte von Strandkörben an die Strandmauer schlug. Ein Kurgast wurde mitgerissen und verletzt, andere mussten „nackt oder wenig bekleidet in ihre Pensionen zurückkehren, weil ihre Kleidungsstücke ins Meer gerissen worden waren“.

Der Meteorologe Thomas Sävert hat auf seiner Website ein halbes Dutzend solcher Vorfälle in Nord- und Ostsee dokumentiert. Anders als Tsunamis werden sie nicht durch geologische Ereignisse wie Erdbeben oder Hangrutschungen ausgelöst, sondern, wie schon lange vermutet wird, wahrscheinlich durch meteorologische Ereignisse.

Jörn Behrens von der Universität Hamburg hat diese Vermutung jetzt mit einem mathematischen Modell unterfüttert. Sein Ziel ist es, solche „Meteotsunamis“, die an der Küste als „Seebären“ bekannt sind, voraussagen zu können. „Mein persönliches Horror­szenario ist, dass tausend Leute bei einer Wattwanderung nach Neuwerk unterwegs sind und dann kommt sowas an“, sagt der Professor.

„Sowas“ ist eine Schwerewelle, das heißt eine Welle, die nicht nur den oberen Teil des Wasserkörpers bewegt, sondern durch die ganze Wassersäule läuft. „So eine Schwerewelle muss man sich ein bisschen vorstellen wie eine Schallwelle“, erläutert Behrens. Dabei wird ein Impuls durch die Wassersäule geschickt, der sich erst auswirkt, wenn er an der Küste auf Widerstand trifft. „Wenn man sich auf dem Ozean befindet, bemerkt man die Welle gar nicht“, sagt Behrens.

Der Mathematiker geht davon aus, dass starke Hoch- oder Tiefdruckgebiete die Seebären entstehen lassen. Tiefdruck saugt das Wasser nach oben, Hochdruck verdrängt es nach unten, sodass Wellen entstehen. Um einen Seebären zu machen, müssen sich die Hoch- oder Tiefdruckgebiete mit der Geschwindigkeit bewegen, in der sich eine Schwerewelle ausbreitet.

Deren Geschwindigkeit wiederum hänge von der Wassertiefe ab, sagt Behrens: Sie entspreche der Wurzel aus Wassertiefe mal Erdbeschleunigungskonstante. In der südlichen Nordsee mit einer durchschnittlichen Tiefe von 50 Metern ergibt sich daraus eine Geschwindigkeit von knapp 80 Stundenkilometern.

Bewegt sich das Druckgebiet mit dieser Geschwindigkeit, kommt es zu einer Wechselwirkung: Eine Schwerewelle erhebt sich. Das Druckgebiet schleppt sozusagen die Welle Richtung Küste. Doch selbst wenn es sich auflösen sollte, läuft die Welle weiter, wenn sie einmal in Bewegung ist.

Im flacher werdenden Wasser vor der Küste türmt sie sich auf – in historischen Berichten ist von bis zu sechs Metern die Rede. Sie verliert dabei an Geschwindigkeit, kann aber Hunderte Meter tief ins Land dringen. Seebären seien gefährlich, weil ihre Wellen lang seien, sagt Behrens. „Das heißt, es fließt lange Wasser ins Land.“ Das könnten durchaus fünf bis zehn Minuten sein.

Die Theorie, wie dieser Mechanismus funktioniert, wird mindestens seit den 60er-Jahren diskutiert. Behrens, der an dem Tsunami-Warnsystem für Indonesien mitgearbeitet hat, machte daraus ein mathematisches Modell. Zusammen mit seinem Team hat er es mit den Daten bekannter Seebären abgeglichen und bestätigt gefunden. Dazu gehört ein auf Video dokumentiertes Ereignis vom 29. Mai, als eine zweieinhalb Meter hohe Welle die Küste der Niederlande traf.

Behrens und seine Mitarbeiter wollen ihr Modell weiter ausfeilen. „Das Problem ist, dass man nicht ganz genau die anregenden Mechanismen kennt“, sagt der Forscher. „Welche Arten von Wetterfronten sind es und wie kann man sie entdecken?“ Und wie lässt sich daraus eine Prognose mit zwei bis drei Stunden Vorlaufzeit stricken? Denn darauf käme es an.

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