Karlsruhes Vorgaben für Medizin-NC: Ein Einser-Abi reicht nicht
Die Vergabe von Medizinstudienplätzen ist teilweise gesetzeswidrig, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden – und Kriterien definiert.
Um Zeit zu überbrücken, machte er eine Ausbildung als Notfallsanitäter und arbeitete auch in diesem Beruf. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen legte seinen Fall 2014 in Karlsruhe zur Prüfung vor. Zwar bekam Jäger in diesem Herbst nach 14 Semester Wartezeit einen Studienplatz in Marburg. Das Bundesverfassungsgericht sprach dennoch ein Urteil – wegen des großen öffentlichen Interesses. Nun müssen 14 Landesgesetze, ein Bundesgesetz und ein Länder-Staatsvertrag geändert werden. Weil das so komplex ist, hat die Politik dafür zwei Jahre Zeit.
Bisher werden die rund 10.000 Medizinstudienplätze nach folgendem System verteilt: Vorweg gehen 12,4 Prozent der Plätze an soziale Härtefälle, künftige Bundeswehrärzte und ausländische Bewerber. Für die übrigen Plätze gibt es drei Hauptquoten: 20 Prozent werden nach Abinote vergeben, weitere 20 Prozent nach Wartezeit und 60 Prozent nach Auswahlverfahren der Hochschulen, bei denen oft auch die Abinote eine zentrale Rolle spielt. Gegen diese Aufteilung hatten die Richter keine Einwände. Die Politik kann jedoch auch eine andere Aufteilung wählen, solange sie bestimmte Vorgaben beachtet.
Die Abiturnote darf auch künftig eine zentrale Rolle spielen. Sie sei ein „zuverlässiger Indikator“ dafür, ob jemand das Medizinstudium erfolgreich abschließen wird. Zwar ist der Abischnitt in Thüringen (2,16) fast eine halbe Note besser als in Niedersachsen (2,59). Dies fällt hier aber nicht ins Gewicht, da es Länderquoten gibt. Einziges Kriterium für den Zugang zum Medizinstudium dürfe die Abinote aber nicht werden, so das Urteil. Denn der Arztberuf erfordere auch „sozial-kommunikative“ und „empathische“ Kompetenz. Darüber sage die Abiturnote nichts aus.
Maximale Wartezeit
Auch die Verteilung von Studienplätzen nach Wartezeit halten die Richter für verfassungskonform, wenn sie nicht mehr als ein Fünftel der Studienplätze betrifft. Zwar sage die Wartezeit nichts über die Eignung eines Bewerbers aus. Wer bereit ist, lange zu warten, zeige aber zumindest eine „hohe Motivation“. Die Verteilung nach Wartezeit könnte aber auch abgeschafft werden.
Jedenfalls muss die Wartezeit künftig gedeckelt werden. Wer zu lange wartet, „verlerne das Lernen“, so die Richter. Weil Wartezeitstudenten ihr Studium viel häufiger abbrechen als andere Medizinstudierende, fordert das Gericht eine Begrenzung der Wartezeit auf maximal vier Jahre. Es gebe keinen Anspruch, durch langes Warten sicher einen Studienplatz zu erhalten.
Auch wenn Studienplätze dezentral an den Unis vergeben werden, müssen die Kriterien gesetzlich geregelt sein. Die Unis dürfen Kriterien nicht selbst erfinden, wie es in Hamburg und Bayern möglich ist. Soweit die Unis die Abiturnote berücksichtigen, etwa zur Vorauswahl, müssen sie künftig die Unterschiede im Notenniveau ausgleichen. Die Abiturientin aus Niedersachsen darf auch hier keinen Nachteil gegenüber ihrer Mitbewerberin aus Thüringen haben. Jedenfalls muss neben der Schulnote mindestens ein weiteres Kriterium zum Zuge kommen.
Falls die Unis Auswahlgespräche mit den Bewerbern führen, müssen diese „standardisiert“ sein. Sonst bestehe die Gefahr, dass sich Professoren allzu sehr von persönlichen Vorlieben leiten lassen. Bei allen drei Hauptquoten spielte bisher die Ortspräferenz der Bewerber eine große Rolle. Das halten die Richter für verfassungswidrig. An welcher Uni ein junger Mensch studieren will, sage nichts über seine Eignung aus.
Zahl der Bewerber rund fünfmal so hoch
Ausnahmsweise dürfen aber die Unis die Ortspräferenz berücksichtigen, wenn sie aufwendige Tests und Gespräche durchführen. Diesen Aufwand dürfen sie auf die Bewerber beschränken, die einen Platz an dieser Uni wahrscheinlich auch annehmen würden. Derzeit werden pro Jahr 10.800 Medizin-Studienplätze neu vergeben. Die Zahl der Bewerber liegt aber rund fünfmal so hoch. Die allermeisten Bewerber gehen also leer aus. Daran wird auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nichts ändern.
Wie die Richter festgestellt haben, gibt es keinen einklagbaren Rechtsanspruch auf einen Medizinstudienplatz. Wie viele Studienplätze angeboten werden, sei eine politische Entscheidung des Gesetzgebers. Die Bewerber haben nur Anspruch darauf, dass die Plätze nach einem transparenten und gerechten Verfahren vergeben werden. Die Gewerkschaften Marburger Bund und Verdi fordern, die Zahl der Studienplätze um zehn Prozent zu steigern. Die Länder sind überwiegend dagegen, weil sie jeder Studienplatz 200.000 Euro kostet. Aber auch mit einer derartigen Ausweitung an den Unis blieben weiter mehr als 75 Prozent der Bewerber ohne Studienplatz.
Es werden also auch weiterhin Studierwillige versuchen, einen Studienplatz im Ausland zu bekommen (siehe Text unten) oder sich mit Hilfe von spezialisierten Anwälten einen Platz zu erklagen. Die Anwälte machen dabei geltend, dass die Unis ihre Kapazität falsch berechnet haben – und gewinnen häufig. Mit dem normalen Vergabeverfahren haben solche Kapazitätsklagen nichts zu tun. Weil eine solche Klage rund 15.000 Euro kostet, profitieren von diesem Weg wohl vor allem die Kinder reicher Eltern.
Es geht um die Versorgung
In den nächsten 10 bis 15 Jahren werden viele Ärzte der Baby-Boomer-Generation in Ruhestand gehen. Vor allem auf dem Land finden sich oft nur schwer Nachfolger für die Praxis. Bund und Länder haben sich daher im März 2017 im „Masterplan Medizinstudium 2020“ darauf geeinigt, dass Länder eine zehnprozentige Landarztquote bei der Zulassung zum Medizinstudium vorsehen können. Wer sich verpflichtet, für mindestens zehn Jahre eine Landpraxis zu übernehmen, bekäme dafür vorrangig einen Studienplatz. Zumindest Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen haben Interesse.
In diesem Masterplan ist auch vorgesehen, das Medizinstudium praxisnäher zu gestalten. So sollen Studierende während des praktischen Jahrs ein Quartal in der ambulanten Versorgung verbringen und dabei ganz normale Erkrankungen kennenlernen. Bei der Zulassung sollen soziale und kommunikative Kompetenzen künftig stärker gewichtet werden. Nun müssen nur noch die Vorgaben des Verfassungsgerichts eingebaut werden.
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