Sexuelle Gewalt in Nigeria: „Wir Mütter wissen, was passiert ist“
In Nigeria ist es ein Tabu, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Stattdessen werden Täter gedeckt. Die kaufen sich oft bei der Polizei frei.
Im Konferenzraum findet eine Versammlung statt. Männerstimmen dringen bis in den hinteren Teil des Gebäudes herüber, wo das kleine Gesundheitszentrum untergebracht ist. An den Wänden hängen Poster, auf denen verschiedene Methoden der Familienplanung zu sehen sind. Einige weisen auf die Risiken von Teenagerschwangerschaften hin. Das sei ein großes Thema, bestätigen die Krankenschwestern. Vor allem dann, wenn die jungen Mütter vergewaltigt wurden. Wie Mary Odumeke kennen auch sie zahlreiche solcher Fälle.
Odumeke, Lehrerin für Sozialwissenschaften an einer weiterführenden Schule, wirkt im ersten Moment indiskret und wenig einfühlsam, wenn sie über die Mädchen spricht, die sie nach und nach begrüßen. Manchmal sagt sie: „Du kannst ruhig darüber reden, was dir passiert ist. Hier wird dir nichts passieren.“ Einige der Mädchen schauen verschämt auf den Boden oder grinsen verlegen. Dennoch sind sie alle wegen der Lehrerin gekommen. Mary Odumeke gehört zu den wenigen Menschen, die in Nigeria offen über Vergewaltigungen und Missbrauch sprechen.
Normalerweise ist das in Afrikas einwohnerreichstem Staat ein Tabu. Und das, obwohl das Kinderhilfswerk Unicef bereits vor zwei Jahren erhoben hat, dass dort jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge bis zur Volljährigkeit von sexualisierter Gewalt betroffen ist.
Der Bundesstaat Lagos hat Mitte Oktober bekannt gegeben, dass sich die Zahl der angezeigten Fälle von sexueller und häuslicher Gewalt in den ersten neun Monaten 2017 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt hat. In einem Bundesstaat, in dem mehr als 18 Millionen Menschen leben, waren das 950. Allerdings: Eine 2014 veröffentlichte Studie der Europäischen Union geht davon aus, dass selbst in der EU nur 14 Prozent aller Übergriffe innerhalb einer Beziehung angezeigt werden.
Aufschrei und Debatte bleiben aus
Mittlerweile ist die #MeToo-Debatte auch in Nigeria angekommen. Einige Nollywood-Schauspielerinnen haben im Internet beschrieben, wie sie sexuell belästigt wurden. „Epidemisch“ nennen sie die Häufigkeit. Doch Aufschrei und Debatte bleiben aus – besonders in ländlichen Regionen. Genau dort will Mary Odumeke als ehrenamtliche Helferin für das „Zentrum für Frauenstudien und Einmischung“ über Missbrauch, Vergewaltigung, Rechte und Hilfsmöglichkeiten aufklären. Die nichtstaatliche Organisation arbeitet mit Rechtsanwälten zusammen und unterstützt – wenn sie die Möglichkeiten dazu hat – auch finanziell durch Stipendien. Die wichtigste Aufgabe ist aber, die Mädchen und jungen Frauen ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören.
Die 19-jährige Ifeoma sitzt neben Mary Odumeke. Sie ist die einzige, die bereits die Schule abgeschlossen hat und eine Ausbildung macht, als Krankenschwester, im dritten Lehrjahr. „Ich kümmere mich einfach gerne um Menschen“, sagt sie leise auf Englisch, starrt auf sandigen Boden und spielt mit ihren Fingern hin und her. Ifeoma bittet darum, dass weder ihr voller Name noch ein Foto in der Zeitung erscheinen. „Ich möchte nicht, dass das irgendwann mal meiner Karriere schadet“, sagt sie. Dann beginnt sie zu erzählen.
Es war kurz nach Neujahr, als sie zu Besuch in ihrem Heimatdorf war, das wie Echialike im Landkreis Ikwo liegt. „Dort gibt es einen Jungen, der unbedingt mein Freund werden wollte. Ich wollte das aber nicht und habe ihm das gesagt.“ Eines Tages sei sie gemeinsam mit einer Freundin auf dem Heimweg gewesen. Es war später Nachmittag. „Er stand vor der Grundschule und sagte, er wolle etwas mit uns diskutieren.“ Irgendwann willigten die jungen Frauen ein und folgten ihm in eins der Klassenzimmer.
Je mehr Ifeoma erzählt, desto lauter wird ihre Stimme und desto schneller spricht sie. In dem Klassenzimmer lauerte eine ganze Gruppe junger Männer den Frauen auf. Wie viele es waren, das weiß die 19-Jährige nicht mehr. Auch an ihre Gesichter erinnert sie sich nicht. „Über meine Freundin sind sie zuerst hergefallen.“ Einen Moment schweigt Ifeoma und starrt in die Ferne, wenn sie an den Raum mit den Holzbänken und der großen Tafel denkt, in dem an normalen Tagen viel zu viele Schüler sitzen. Sie atmet durch und sagt: „Ich weiß nicht mehr wie, aber mir ist die Flucht gelungen.“ Das bedeutet aber: Sie hat ihre Freundin zurückgelassen. Bis heute plagen sie Gewissensbisse.
Mary Odumeke hört meist schweigend zu. Nur ab und zu nickt sie fast unmerklich und presst ihre Lippen zusammen. Im Laufe der Jahre ist sie immer wieder über Fälle von Gruppenvergewaltigungen informiert worden. Auch wenn sie sich die einzelnen Taten nicht notiert hat, so kann sie sich doch an jede erinnern.
Schwierig, überhaupt Anzeige zu erstatten
Meistens führen die Ermittlungen zu nichts, niemand wird zur Rechenschaft gezogen. Auch Ifeoma winkt ab: „Ich habe es meinen Eltern gesagt, und ein paar Männer aus dem Dorf haben nach ihnen gesucht.“ Auf die Frage, ob sie auch zur Polizei gegangen sei, antwortet sie so, als ob sie sich verteidigen muss. „Ich kannte sie doch gar nicht wirklich.“ Auch einen Arzt hat sie nie aufgesucht. „Sie haben mich ja bloß festgehalten.“ Etwas abseits sprechen die übrigen Mädchen leise miteinander und schenken Ifeomas Erzählung keine Aufmerksamkeit. Ihre eigenen Geschichten sind oft ähnlich verlaufen.
Wie lange ihre Freundin von wie vielen Männern vergewaltigt wurde, weiß Ifeoma nicht. „Sie hat stark geblutet, so schwer geblutet“, sagt Mary Odumeke und erinnert sich genau an den Moment, in dem sie gerufen wurde. Sie sollte sich um die junge Frau kümmern. Anfangs wollte diese aber nicht einmal in eine Klinik, aus Scham. Eine Abwehrreaktion, die die Lehrerin häufig erlebt. Sie versucht, ein Lächeln aufzusetzen. „Aber wir Mütter wissen schließlich, was passiert ist.“
Die massiven Verletzungen am ganzen Körper waren für die Dorfgemeinschaft der Auslöser, ein zweites Mal nach den Tätern zu suchen. Mindestens sieben waren es. Zwei wurden letztlich gefasst. Einer sitzt bis heute im Gefängnis. Allerdings ist unklar, wie es mit dem Fall weitergehen wird. Rechtsanwälte, die für das Zentrum für Frauenstudien und Einmischung Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfer vor Gericht vertreten, bestätigen, dass es schwierig ist, überhaupt Anzeige zu erstatten.
In Nigeria gilt die Polizei als korrupt. Anzeigen nehme sie gegen Zahlung von Bestechungsgeldern zurück, so die Anwälte. Polizistinnen, die Empathie für Opfer von sexualisierter Gewalt haben, gebe es auf dem Land nicht, sagt Mary Odumeke. Dafür komme es manchmal zu anderen Deals wie etwa im Fall der gehörlosen Faith. „Der Täter wurde dazu verpflichtet, für das Mädchen zu sorgen“, erklärt die Lehrerin. Niemand weiß, ob und wie lange er dem nachkommt. Dafür bleibt er frei und ist nicht einmal vorbestraft.
„Ich will, dass Täter wirklich bestraft werden. Es gibt ja so viele Fälle“, sagt Ifeoma. Sie streicht sich über den Rock und starrt in die Ferne. Ob das in Zukunft gelingen wird? Sie zuckt mit den Schultern. „Vertrauen habe ich längst nicht mehr.“
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