Kolumne Minority Report: Belanglose Perspektiven
Subjektive Positionen sind nur relevant, wenn sie von weißen Männern formuliert sind. Das zeigen Leserbriefe und die #MeToo-Debatte.
L etzte Woche war ich in Holland. Dort kam ich mit M. ins Gespräch, dem ich von einem witzigen Besuch im Coffeeshop erzählte. M. fragte mich: „War der Verkäufer Holländer?“ Ich sagte, ich wüsste es nicht. „Sah er wie ein Holländer aus?“ Ich musste schmunzeln und fragte ihn, wie denn ein Holländer aussähe. Er sagte trocken: „Na, so wie ich.“ Ich musterte ihn. M. hat blonde Locken und eine Augenbrauenform, die mich an traurige Vögel erinnert. Und: M. ist weiß.
Seit ziemlich genau einem Jahr schreibe ich diese Kolumne. Seitdem bekomme ich so viele entnervte Leserbriefe wie nie zuvor. „Belanglosigkeit“ wird mir sehr häufig vorgeworfen. Dabei geht es nicht um meine Themenwahl, schließlich sind Sexismus und Rassismus nicht gerade die minoritärsten Themen. Es geht vielmehr um die Perspektive. Leute nehmen sich Zeit, mir mehrere Absätze zu schreiben, wie desinteressiert sie an meinen Ich-Erzählungen seien. Meist lassen die Briefe erkennen, dass sie meine Kolumne sehr aufmerksam lesen. Subjektive Positionen, das habe ich inzwischen gelernt, sind immer nur dann relevant, wenn sie von Männern formuliert werden. Von weißen Männern.
Insofern ist es nicht sonderlich überraschend, dass M. sich für den Prototyp einer gesamten Nationalität hält. Ganz egal, was er in der Schule über die Kolonialgeschichte der Niederlande gelernt hat – er wird in seiner Annahme, die „Norm“ zu verkörpern, immer wieder bestätigt. Wie könnte er anderes denken? Ich habe eben nicht erwähnt, dass neben M. eine junge Holländerin saß, die spanischsprachige Literatur übersetzte. Sie hat exakt im selben Moment gesagt: „So wie er.“ Und dann haben beide gelacht. Nicht weil sie eine ironische Bemerkung machten. Sondern weil sie zeitgleich das Offensichtliche ausgesprochen hatten. Situationskomik. Haha.
MeToo als „fiebrige Dramatisierung“
Auch Zeit-Autor Adam Soboczynski kreist um den eigenen Nabel, wenn er in einem Text die #MeToo-Debatte als „fiebrige Dramatisierung“ abwertet. Laut Soboczynski nutzen alle Frauen, die ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt schildern, die Gelegenheit, bloß ein paar „Alltagsrechnungen“ zu begleichen. Mal abgesehen davon, dass mit dem Fall Kevin Spacey auch männliche Betroffene in den Fokus geraten sind, was den Autor offensichtlich nicht interessiert.
Wie kommt eine Person auf die Idee, dass alltägliche Belästigungen und Übergriffe Nichtigkeiten seien, die nicht der Rede wert sind? Eben, weil diese Person nicht tagtäglich von diesem Verhalten betroffen ist. Am Ende von Soboczynskis polemischem Text bleibt nur noch eins hängen: Wer (noch) nicht vergewaltigt wurde, soll besser die Klappe halten und nicht über Sexismus klagen. Es bleibt zu hoffen, dass genügend Leser*innen erkennen: Diese Position ist einfach nur belanglos.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja