piwik no script img

Leipziger Friedhöfe in der DDR„Wer hier liegt, das weiß nur ich“

Der Friedenspark war einst ein Friedhof – bis er der DDR-Ideologie weichen musste. Seine Geschichte kennt niemand so gut wie Alfred E. Otto Paul.

Der Eingang zum Leipziger Friedenspark war bis 1950 ein Friedhofstor Foto: Angela Huffziger

LEIPZIG taz | Nicht links oder rechts daneben, sondern genau mittig zwischen den Pfeilern aus gelbem Backstein steht ein Mann, dessen offene Jacke im Novemberwind weht. Die niedrig stehende Sonne strahlt ihn wie auf einer Bühne von hinten an. Diejenigen, die an diesem Vormittag durch den Friedenspark im Leipziger Osten spazieren wollen, müssen zuerst an ihm vorbei.

Der Treffpunkt hier ist gut gewählt. „Vom Friedhof ist nicht viel mehr übrig geblieben als dieses Tor“, bedauert Alfred E. Otto Paul. Zwischen den Jahren 1846 und 1950 betraten Spaziergänger*innen an dieser Stelle keinen Park, sondern den Neuen Johannisfriedhof. Die heutige Hauptallee war damals die Hauptachse des Friedhofs. Sie führte direkt zur Friedhofskapelle mit ihren zwei Leichenhallen. Links und rechts davon standen riesige Familiengruften und Grabanlagen mit bronzenen Statuen, streng geometrisch angeordnet.

In über 100 Jahren wurden hier 140.000 Tote beerdigt. Paul weiß, wo genau jeder Einzelne begraben liegt. „Sie ruhen alle noch hier in dieser Erde“, sagt er.

Paul muss es wissen: Schon zu DDR-Zeiten war er als Technischer Direktor für die kommunalen Leipziger Friedhöfe verantwortlich. Wirklich interessiert hat sich damals niemand für den Tod, die Friedhöfe wurden weitgehend ihrem Verfall überlassen. So begann Paul, sich um die löchrigen Kapellen zu kümmern und die Geschichte der Friedhöfe aufzuarbeiten. Seit Jahren publiziert er die Ergebnisse in Büchern, die er selbst an einem Stand auf dem Südfriedhof verkauft.

Seine Führungen hier sind beliebt, nicht nur einmal im Jahr bei den Besucher*innen des Wave Gothik Festivals. „In ganz Sachsen bin ich wohl der Einzige, der sich mit dem Thema so gut auskennt“, sagt er von sich selbst.

Der Hügel, der kein Hügel ist

Wer im Friedenspark die Vergangenheit sucht, braucht einen Experten wie Paul, denn sie hat sich gut versteckt. Eine Infotafel über den alten Friedhof gibt es nicht. Paul aber weiß um die letzten Spuren, etwa am südöstlichen Ende des Parks. Hier lugen noch wenige Wandstellen hinter Efeu und Büschen hervor. Manchmal muss man den Blick auch nur auf das Augenfälligste richten: den großen Hügel an der Ostseite des Parks.

„Einfältige Leute nennen ihn den Rodelberg“, sagt Paul. Wenn im Winter Schnee liegt, fahren ihn die Kinder mit ihren Schlitten hinunter. Heute quält sich nur ein Jogger den gewundenen Trampelpfad nach oben. Doch ein Hügel in Leipzig ist niemals nur ein Hügel – auch der Scherbelberg und Fockeberg bestehen vor allem aus Müll und Trümmern aus dem Zweiten Weltkrieg. „In Wirklichkeit sind das hier Grabsteine, die man einfach mit schwerem Gerät zu einem Berg zusammengeschoben hat“, sagt Paul. „Sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Zeug von hier wegzubringen.“

1950 beschloss die Stadt Leipzig das Ende des Neuen Johannisfriedhofs. Nachdem die Ruhefrist von 15 Jahren vorbei war, sollte er säkularisiert werden. Fünf Jahre später beseitigten Bagger alles, was an den Friedhof erinnerte, ebneten Gräber ein und füllten Gruftanlagen mit Schutt auf. Diese Arbeitsweise hat heute Konsequenzen: „Man hat damals nicht überlegt was passiert, wenn eine Grabkammer oder gar eine Gruft einbricht“, sagt Paul. An einigen Stellen, die er nicht benennen will, senkt sich jetzt der Boden. „Das Problem wird uns noch Jahrzehnte verfolgen.“

Damals wollte die Stadtverwaltung die Überreste des Friedhofes schnell beiseite schaffen, um hier einen Park zu bauen. Auch an Denkmalschutz verschwendete sie keinen Gedanken – schließlich galt es ein Exempel zu statuieren. „Sie müssen sich überlegen: Die DDR war gerade einmal ein Jahr alt. Eine neue Zeit sollte anbrechen. Man wollte diese bürgerlichen Relikte nicht mehr.“

Klassenlos bis in den Tod

Als 1886 der Südfriedhof geweiht wurde, ließen sich die Reichen auf dem heutigen Friedenspark bestatten, während die Ärmeren auf den Südfriedhof stadtauswärts ausweichen mussten. „Die ganze Elite der Stadt hatte sich auf diesem Friedhof versammelt, die Intellektuellen, die großen Familien“, sagt Paul. Unter ihnen auch die Verlegerfamilien Brockhaus, Reclam und Teubner.

In der DDR waren ihre opulenten Grabmäler nicht mit der SED-Ideologie vereinbar. Man bevorzugte schlichte Bestattungen, am besten in Gemeinschaftsgräbern oder anonym – eine klassenlose Gesellschaft, auch im Tod. „Friedhofmitarbeiter haben sogar Prämien bekommen , wenn sie Angehörige zur Feuerbestattung überredet haben“, erinnert sich Paul. „Aber jeder braucht einen Ort, um Abschied zu nehmen und zu erinnern. Damit ist die DDR zu unsensibel umgegangen.“

Die taz im Neuland

Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.

Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de

Heute suchen einige Leute wieder so einen Ort der Erinnerung. Paul bekomme deshalb oft Anrufe, etwa aus Amerika. Sie wollen dann wissen, wo ihre Verwandten begraben liegen. „Es dauert nur eine Minute, dann kann ich ihnen genau sagen, dass die Urgroßmutter in der ehemaligen Abteilung sechs, zweite Gruppe, Reihe B im Grab 13 liegt“, sagt Paul und schlägt eines seiner Bücher auf. In einem akribisch ausgearbeiteten Raster ist jedes Grab nummeriert. Mit dem Finger fährt er über seitenlange Listen von Familiennamen.

Ein paar Meter weiter hinter dem Grabsteinhügel schreitet er zielstrebig auf ein Stück Wiese zu. An einer unscheinbaren Stelle bleibt er stehen. „Hier liegt der ehemalige kaiserlich-russische Generalkonsul Ernst tom Have begraben“, erklärt Paul. Er deutet auf den Boden: „Daneben seine Frau und seine Tochter.“ Das habe er einmal für das russische Generalkonsulat herausfinden müssen. Wenn es in Leipzig um den Tod geht, kommt eben niemand an ihm vorbei, findet Paul: „Mit Verlaub, das kann nur ich sagen, wer hier wo liegt.“

Bücher gegen das Vergessen

Mit Friedhöfen beschäftigt sich Paul, seitdem ihn zwei Bergsteigerunfälle in den 80er Jahren für die Arbeit als Dispatcher im Tagebau Zwenkau untauglich gemacht haben. Er entschied sich für seinen heutigen Beruf, weil der Tod schon immer Teil seines Lebens war. Im Haus seiner Kindheit wohnten vier Generationen unter einem Dach. „Gestorben wurde bei uns zu Hause und nicht im Krankenhaus“, erzählt Paul. Eine seiner ersten Kindheitserinnerungen ist dann auch jene an seinen toten Urgroßvater, der tagelang im Wohnzimmer aufgebahrt lag. „Ein würdiger Mann, ein großer Mann war er gewesen“, schwärmt Paul. Noch heute stehen gemalte Portraits seiner Urgroßeltern auf seinem Schreibtisch.

„Es gibt Studien, die besagen: Der Mensch ist nach 70 Jahren vergessen. Dann kennt ihn niemand mehr. Dann ist man einfach nicht mehr da.“ Paul, der ansonsten energisch und wie in einem Fluss spricht, senkt seine Stimme. „Aber ich habe meine Bücher. Die werden noch in hundert Jahren an mich erinnern.“ Daran arbeitet Paul fleißig – trotz oder gerade weil er eigentlich im Ruhestand ist. Momentan schreibt er an einer mehrbändigen Publikation zu Grabkunst auf Leipziger Friedhöfen. Er zeigt, welche Familiengeschichten sich hinter einem einzelnen Grabstein verstecken können.

Der Rückweg aus dem Park führt wieder vorbei am Rodelberg aus Grabsteinen. Paul deutet auf den Hang. „Wenn es ordentlich regnet und Erde abgetragen wird, schauen manchmal wieder die Ecken der Steine aus dem Hügel“, sagt er. „Dann erinnert uns die Geschichte wieder an ihre große Zeit hier.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare