: Nicht alles auf Alltag
Bei der Turn-WM in Montreal kann sich der US-Verband über den Sieg von Morgan Hurd nicht so recht freuen: Ein Missbrauchsskandal erschüttert die Branche. 103 Frauen haben Anzeige gegen den Ex-Teamarzt erstattet; auch der Verband USAG ist mitangeklagt
aus Montreal Sandra Schmidt
Schaut man auf die puren Zahlen, ist eigentlich alles wie immer. Es sind Weltmeisterschaften im Turnen, und ein Mädchen aus den USA gewinnt. Ungewöhnlich an der Siegerin Morgan Hurd, die als Dreijährige aus China adoptiert wurde, ist höchstens ihre Brille. Mit der turnt sie nicht nur, sondern liest besonders gern Harry Potter. Für den Verband USA Gymnastics (USAG) ist Morgan Hurd ein wahrer Glücksfall: zum einen, weil sich die eigentliche Favoritin Ragan Smith kurz vor dem Wettkampf in Montreal verletzte, zum anderen, weil es gerade jetzt noch gefehlt hätte, dass diese Siegesserie abbricht.
Denn USAG hat momentan ganz andere Probleme: Es begann mit einer Veröffentlichung von Indystar im August 2016. Die Zeitung berichtete, der Verband habe zahlreiche Informationen über sexuelle Übergriffe von Turntrainern schlicht liegen lassen, ohne die Polizei oder Clubs, in denen die Trainer arbeiteten, zu informieren. Kurz darauf erstatteten Rachael Denhollander sowie eine Olympia-Medaillengewinnerin, deren Name anonym blieb, in Kalifornien Anzeige gegen Larry Nassar. Der 53-Jährige war der verantwortliche USAG-Teamarzt über vier olympische Zyklen. Bekannt wurde er, als er unter dem damals verantwortlichen US-Trainer Bela Karolyi bei den Olympischen Spielen in Atlanta 1996 die verletzt zum Sprung angetretene Kerry Strug behandelt hatte. Denhollander erzählte dem Indystar, Nassar habe ihr im Jahr 2000 bei einer Massage zur Behandlung von Rückenschmerzen seine Hand in die Vagina geschoben. Denhollanders Mutter sei bei der Behandlung anwesend gewesen, doch Nasser habe so gestanden, dass diese nichts sehen konnte. Die 15-Jährige wusste nicht recht, was ihr geschah: “Ich dachte, wenn hier irgendwas falsch läuft, dann würde meine Mutter ja eingreifen“, erzählt sie. Die Anwälte Nassars erklärten bei einer Anhörung, ihr Mandant habe nie abgestritten, “medizinische Techniken zu benutzen, welche die vaginale Penetration einschließen“. In kurzer Zeit melden sich Dutzende weitere Turnerinnen und berichten von Übergriffen. USAG trennt sich von Nassar und engagiert die ehemalige Staatsanwältin Deborah J. Daniels zur Aufklärung der Vorfälle und Erarbeitung neuer Richtlinien, die mittlerweile vorliegen. Im März 2017 sagt unter anderen die Olympiaturnerin von 2000, Jamie Dantzscher, bei einer Anhörung im Kongress gegen Nassar aus. Bis zu diesem Zeitpunkt sind es 103 Frauen, die Anzeige gegen ihn erstattet haben, die Michigan State University sowie USAG sind in insgesamt sechs laufenden Verfahren auf verschiedenen Ebenen teilweise mitangeklagt.
Dem neuen Cheftrainer Waleri Ljukin vergeht bei der Frage nach diesem Thema das Lächeln: „Es ist eine sehr schwierige Zeit für uns alle, wissen Sie, aber wir arbeiten uns da durch.“ Keine weiteren Statements. Auch nicht von Interims-Präsident Ron Galimore, der vor Ort ist. Wegen der laufenden Verfahren darf sich, so die Pressesprecherin, niemand zu dem Thema äußern. Schriftlich erklärt der Verband: „USA Gymnastics bedauert zutiefst, dass Athleten Missbrauch erlebt haben. Wir haben viel Arbeit vor uns und wollen alles tun, um in Zukunft eine Kultur des sicheren Sports, die absolute Priorität für uns hat, zu gewährleisten.“ Verantwortung für die Taten Nassars übernimmt USAG nicht, man habe umgehend gehandelt, als man davon erfahren habe. USAG-Präsident Penny war im März zurückgetreten, eine Findungskommission zur Neubesetzung ist eingerichtet. Der Verband befürchtet millionenschwere Klagen. Vermutlich wird es einfacher, die nächste Weltmeisterin zu finden, als einen neuen Präsidenten.
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