Frankreich: Die Welle des Nationalismus bricht sich immer weiter
Die Stimme aus dem Ausland
von Laurent JoffrinChefredakteur der Tageszeitung „Libération“
Nun auch noch Deutschland! Wohl in ganz Europa waren am späten Sonntagabend diese Worte zu vernehmen, die klingen wie ein Schrei der Warnung. Schließlich ist die Bundesrepublik doch eigentlich das Musterbeispiel einer stabilen Demokratie, in der das Volk wie auch die Eliten ihre Lehren aus einer historisch einmaligen Katastrophe gezogen haben. In diesem Land war man sich über alle Parteigrenzen hinweg einig im demokratischen Kult des „Nie wieder“.
Deutschland also, eine Säule der Europäischen Union, eine Grundfeste der Kultur und des Kompromisses, mehr als alle anderen Länder gemeinschaftlichen Werten verpflichtet, die den Frieden auf dem Kontinent garantieren sollen – dieses ebenso starke wie gemäßigte Deutschland hat es nun ebenfalls erwischt. Eine fremdenfeindliche, identitäre Partei, aus deren Schoß eine bösartige Bewunderung vergangener Kriege quillt, schlagartig aufgeputscht durch die Migrationskrise – diese Partei bricht nun gleich in Massen über das Parlament herein.
Der Nationalsozialismus steht damit nicht wieder vor der Tür, auch wenn die Wahlkampfstrategie und die nationalistische Rhetorik der AfD in bestimmten Belangen die Monstrosität der NSDAP hinaufbeschwören. Diesmal finden wir weder Gewalt auf den Straßen noch eine Verletzung demokratischer Verfahren, auch keinen zwanghaften Rassismus. Die staatlichen Institutionen sind solide, der „Verfassungspatriotismus“ der Deutschen bleibt die Grundlage ihrer politischen Kultur.
Frankreich dagegen, wo der Front National bei 20 Prozent steht (gegenüber 13 Prozent AfD-Stimmen in Deutschland), steht es freilich nicht an, Lektionen zu erteilen. Aber eine Warnung liegt auf der Hand.
Im Angesicht von Identitätsängsten eines Teils der europäischen Bevölkerung, sozialer Spaltungen (die AfD ist deutlich stärker in den neuen Bundesländern, die noch immer das Scheitern des Kommunismus mit hartnäckiger Armut bezahlen) und einer durch eine zügellose Globalisierung hervorgerufenen Unruhe muss Europa kraftvoll handeln.
Die Welle des Populismus und Nationalismus, die wir nach dem Wahlsieg Emmanuel Macrons und den Post-Brexit-Schwierigkeiten in Großbritannien gezügelt glaubten, bricht sich immer weiter. Ohne einen gemeinsamen Kurs, ein Projekt für die ganze Bevölkerung, eine gut lesbare Politik und einen klar artikulierten Willen wird das demokratische Europa ohne jeden Halt rückwärts rollen – im Angesicht äußerst lebendiger Geister einer unheilvollen Vergangenheit.
(Übersetzung aus dem Französischen: Johanna Roth)
Dieser Text ist Teil einer Kooperation der taz mit ihrem französischen Partnermedium, der Tageszeitung „Libération“
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