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Halbe Drehung

Konzepte Von „Begegnungszonen“ bis zum „Mobilitätsgesetz“: Die Verkehrswende kommt in Berlin nicht recht in Gang. Ohne eine vernünftige Wohnungspolitik wird das auch schwierig

Trotz Fahrradspuren läuft auch mit Velo nicht alles richtig Foto: W. Steinberg/dpa/picture alliance

Von Mirko Heinemann

Endlich wird das Brandenburger Tor wieder für den motorisierten Verkehr geöffnet. Nein, keine Panik: Diese Nachricht ist 25 Jahre alt. Als damals der Verkehrssenator das rote Absperrband am Brandenburger Tor zerschneiden wollte, um es für Busse und Taxis zu öffnen, saß dort die Abgeordnetenhausfraktion von Bündnis90/Die Grünen. Medienwirksam verkündete Fraktionschefin Renate Künast eine „alternative Öffnung“ für Radfahrer und Fußgänger – und durchschnitt das Absperrband. Nach zwölf Stunden Blockade wurde Künast mitsamt ihrer Fraktion von der Polizei weggetragen.

Damals wussten die Grünen noch, was sie wollten. Heute zögert der grüne Verkehrsstaatssekretär Jens-Holger Kirchner sogar bei der Umsetzung des Koalitionsvertrags der rot-rot-grünen Landesregierung. Darin steht, dass die Straße Unter den Linden eine eingeschränkte Fußgängerzone werden soll. Neben Fußgängern und Fahrräder sollen dann nur noch Busse unterwegs sein. Wann, steht im Koalitionsvertrag nicht. Bei einer Diskussion beim Verein Architekturpreis Berlin verwies Kirchner auf eine „Machbarkeitsstudie“, die erst einmal in Auftrag gegeben werden müsse. Der Mann, der gegen massive Widerstände den barrierefreien Umbau der Kastanienallee in Prenzlauer Berg durchgesetzt hat, wartet beim Thema Unter den Linden erst einmal ab.

Die Verkehrswende ist eigentlich ein zentrales Thema der Grünen – in Berlin ist nach halber Drehung Schluss. Großstädte wie Kopenhagen, Amsterdam, Paris treiben mit großzügigen autofreien Zonen den Umbau zur Fahrrad- und Fußgängermetropole voran. Spanische Städte – von Barcelona bis Malaga – demonstrieren, wie man den Autoverkehr schnell und radikal aus den Innenstädten verbannt.

Und Berlin? Hat am Alexanderplatz beizeiten Velo-Spuren eingerichtet, die so schmal sind, dass Radfahrer in langen Schlangen hintereinander an der Ampel warten müssen, während sie von Bussen, Lkws und SUVs auf vier Spuren eingenebelt werden. Hat eine CDU Fraktion, die mit der Plattitüde „Diesel statt Günther“ den Vorschlag der Verkehrssenatorin Regine Günther zurückweist, Fahrverbote für Diesel zu prüfen. Hat eine „Begegnungszone“ in der Maaßenstraße am Nollendorfplatz in Schöneberg – eine pollerverschandelte Betonfläche, über die sich seit Jahr und Tag Anwohner mit Planern streiten.

Bald hat Berlin eine zweite Begegnungszone – in der Bergmannstraße. In der belebten Einkaufsstraße in Kreuzberg soll ab Frühjahr 2018 gebaut werden. „Begegnungszone“ heißt: Fußgänger und Radfahrer können die gesamte Straße nutzen, Autoverkehr mit maximal 20 Kilometer pro Stunde ist aber weiterhin erlaubt. Aus der dort einmündenden Zossener Straße soll nach Willen der Bezirksregierung der motorisierte Verkehr gar ganz verbannt werden, eine Fußgängerzone soll hier entstehen. Eine weitere Begegnungszone ist rund um den Checkpoint Charlie geplant.

Berlin hat beste Voraussetzungen für die Verkehrswende. Im Gegensatz zu vielen europäischen Metropolen mit mittelalterlichen Stadtkernen verfügt Berlins Innenstadt über breite Straßen und zahlreiche Grünanlagen mit Routen für Radfahrer und Fußgänger. Der öffentliche Nahverkehr ist exzellent ausgebaut, Berlin ist das Bundesland mit den wenigsten Autos pro Einwohner. Auch das Klima wirkt unterstützend: Europas Fahrradhauptstadt Kopenhagen verzeichnet im Jahresdurchschnitt die doppelte Menge an Regen.

Um die träge Verkehrswende anzuschieben, forcieren engagierte Berliner den Umbau zur fahrradfreundlichen Stadt. Die Initiatoren von „Volksentscheid Fahrrad“ haben schon viel erreicht. Sie haben gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Verkehr, dem Allgemeinen Fahrradclub Berlin und dem Bund für Umwelt und Naturschutz ein „Fahrradgesetz“ erarbeitet, das in ein sogenanntes Mobilitätsgesetz integriert wurde. Der Referentenentwurf wurde kürzlich vorgelegt.

Darin verspricht der Senat, bis zum Jahr 2030 ein Radverkehrsnetz mit „lückenlosen Verbindungen“ in der Stadt zu bauen. Neue Radwege sollen entstehen, Radstreifen an Hauptverkehrsstraßen, neue Fahrradstraßen und Radschnellverbindungen. Überdies sollen – ganz neu in Deutschland – sogenannte geschützte Radstreifen eingerichtet werden, das sind mit Pollern, Blumenkübel oder anderen Trennelementen vom Straßenverkehr getrennte Radwege auf der Straße. 100.000 Fahrradabstellanlagen werden neu gebaut. Dem ersten Teilgesetz soll 2018 eine Ausführung für den Fußverkehr und danach eine für die sogenannte Intelligente Mobilität folgen. Diese deckt integrierte Mobilitätsangebote wie Bikesharing, Carsharing und digitale Angebote ab.

Das ist erst einmal verwalterischer Aktivismus – eine Verkehrswende ist es nicht. Jedes Jahr wächst die Zahl der zugelassenen Autos in der Stadt um ein bis zwei Prozent, die Innenstadt wird mit privaten Tiefgaragen und teuren Apartments gepflastert. Die Wohnungspreise explodieren. Wenn das so weitergeht, werden immer mehr Familien die Innenstadt verlassen und in Außenbezirke oder den Speckgürtel ausweichen müssen. Die Wege der Pendler werden länger, das Fahrrad wird weniger attraktiv. Ganzheitliche Planung ist angezeigt: Ohne eine vernünftige Wohnungspolitik ist auch eine Verkehrswende nicht zu schaffen.

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