Migrationsroman von Mohsin Hamid: Eine Welt voller Türen
Autor Mohsin Hamid verwendet in „Exit West“ märchenhafte Elemente. Er schickt seine Protagonisten auf eine Wanderung über die Kontinente.
Es fängt an wie eine beliebige „Boy meets girl“-Geschichte. Vielleicht aus gemütlich europäischer Perspektive nicht ganz so beliebig, denn Saeed und Nadia, das Paar, das erst noch eins werden muss, leben in einer Stadt, die sich auf einen Bürgerkrieg vorbereitet. In einer Stadt, wo die Sitten so streng sind, dass die allein lebende Nadia sich angewöhnt hat, immer ein voluminöses Ganzkörpergewand zu tragen, um Ruhe vor den Männern zu haben. Langsam nähern die beiden sich einander an, werden irgendwann ein Paar.
Die weitere Entwicklung wird durch den Bürgerkrieg beschleunigt, der inzwischen eingesetzt hat. Saeeds Mutter kommt ums Leben. Eine Bombe zerstört Nadias Wohnung. Als das Leben im Krieg schließlich unerträglich wird, beschließen Nadia und Saeed fortzugehen. Sie haben von einer Tür gehört, durch die man nur gehen muss, um in eine andere Welt zu gelangen.
Mohsin Hamid erzählt die Geschichte von Saeeds und Nadias Migration ohne die eigentliche Flucht. Den Weg vom unerträglichen A über das gefährliche B ins verheißungsvolle C, das große, lebensgefährliche und vielleicht lebensentscheidende Abenteuer des verbotenen Weges, lässt er aus. Seine Protagonisten gehen schlicht durch „Türen“. Die erste Tür in der – namenlosen – Heimatstadt von Nadia und Saeed befindet sich in einer ehemaligen Zahnarztpraxis. Nachdem die Liebenden hindurchgegangen sind, finden sie sich auf der Insel Zypern wieder, wo sie eine Weile in einem Flüchtlingslager leben.
Doch zögern sie nicht, durch eine weitere Tür zu gehen, die sie nach London führt. Und auch dort gibt es weitere Türen, die den Weg zu anderen Orten eröffnen. Als Kind hat Mohsin Hamid die „Narnia“-Geschichten des britischen Autors C. S. Lewis verschlungen. Dort gelangen die kindlichen Helden durch einen Schrank in eine andere Welt voller märchenhafter Abenteuer. Auch die Geschichte von Nadia und Saeed trägt Züge, die ins Märchenhafte, mitunter auch ins Dystopische weisen. Ein leichter, flirrender Schleier des Surrealen liegt über der gesamten Erzählung, besonders über dem London-Kapitel.
Lahore oder Damaskus
Das London des Romans teilt mit der realen heutigen Metropole zwar die bekannte Stadtgeografie, ist aber vor allem Schauplatz einer zunehmend gewalttätiger werdenden Auseinandersetzung zwischen Massen von illegalen Einwanderern, die ganze Stadtteile besetzt halten, sowie dem immer brutaler gegen sie vorgehenden Militär des Landes. (Eine, nebenbei gesagt, etwas befremdliche Vision, die sich von den Angstfantasien britischer Rechtsextremer vermutlich nicht sehr stark unterscheidet.)
Mohsin Hamid: „Exit West“. Aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont, Köln 2017, 223 Seiten, 22 Euro
Im Laufe ihrer sich in die Länge ziehenden Wanderung über die Kontinente, mit jeder neuen Tür, die sie durchschreiten, verändern sich die Liebenden – als Paar und als einzelne Persönlichkeiten. Während Nadia in der Fremde die anderen Fremden entdeckt, fühlt Saeed sich von deren Andersartigkeit eher bedroht und sucht die Gesellschaft von früheren Landsleuten – auch wenn diese sich in einer Weise kleingeistig nach außen abschotten, die er einst verachtet hätte. Aber bevor die Beziehung des jungen Paares an solchen Unterschieden zu zerbrechen droht, gehen sie lieber durch die nächste Tür.
Mohsin Hamid hat keinen Roman über die derzeitige „Flüchtlingskrise“ in Europa geschrieben. Der Autor lebt in Pakistan, einem Land, aus dem liberal orientierte Intellektuelle schon immer gern fortmigriert sind, und hält von dort aus Kontakt mit Freunden in aller Welt. Die fiktive Stadt, aus der Nadia und Saeed weggehen, weil bewaffnete Ultrareligiöse einen Bürgerkrieg entfesseln, könnte wahrscheinlich ebenso gut Lahore sein wie Damaskus. Aus dieser Perspektive ist „Exit West“ zu sehen.
Doch es geht in diesem Roman nicht (mehr) darum, irgendwo anzukommen, sich als Fremder in einer anderen Welt zurechtzufinden. Die Flucht der Protagonisten hat zwar einen Ausgangsort, jedoch kein Ziel. Die Migration an sich ist es, die die Personen formt, die ihre Paarbeziehung einerseits befördert, andererseits beeinträchtigt. Und vielleicht ist es sogar die merkwürdige Zwischenexistenz in der dauernden Wanderschaft, die das wahre Wesen der Menschen stärker zutage treten lässt, als es beim Verharren an einem Ort geschehen wäre. Aber wer weiß das schon.
Vielleicht spielt auch die Wanderschaft von Nadia und Saeed, von der Mohsin Hamid erzählt, letztlich an ein und demselben Ort, gewissermaßen in einem Narnia der Migration. Die Welt hinter der jeweils nächsten Tür ist nämlich wieder nur ein Zwischenreich. Und der Mensch ist in Wahrheit ohnehin nirgendwo zu Hause; nicht einmal zu zweit. Mohsin Hamid erzählt diese melancholisch gefärbte Einsicht wie ein modernes Märchen, in dem die Liebe so lange wandert, bis sie verschwindet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!