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Die WahrheitDie Schranke, die kostet

Kolumne
von Leo Riegel

Nur blass zeichnen sich die hinter der Schranke liegenden Buchstaben ab – wie die Rundungen an einem zarten Sommerkleid ....

S ie reizt mich auf geradezu erotische Art. Wie sie es versteht, Einblicke zu gewähren, die Neugier zu steigern, ehe sie den nackten Tatsachen plötzlich den Schleier überwirft – herrlich! An sie geglaubt hatte kaum jemand. Von den einen wurde sie gefürchtet, von den anderen bespöttelt. Nun ist sie da. Ob Welt, Zeit, MOZ oder NOZ – fast alle haben sie. Der seltsam spröde Name lässt ihre verführerische Kraft nicht erahnen.

Sie, die Paywall, zeigt sich meist auf ein und dieselbe Weise: Der Artikel wird gut lesbar eingeleitet, um nach wenigen Zeilen hinter einem weißen Farbverlauf zu verschwinden. Nur blass zeichnen sich die darunterliegenden Buchstaben ab, wie die Rundungen an einem zarten Sommerkleid. Ich bin von Anfang an verzückt gewesen.

Leider ist es so, dass mein Vertrauen in die Medien, quasi parallel zu jener Entwicklung, stark nachgelassen hat. Ich werde das Gefühl nicht los, dass die großen Zeitungen oft nur noch standardisierte Mehrheitsmeinungen reproduzieren. Als aufmerksamer Leser fühle ich mich jedenfalls an der Nase herumgeführt, und es widerstrebt mir, Geld für ihre Artikel zu bezahlen.

Trotzdem bin ich neugierig. Und wenn ich über einen längeren Zeitraum lustvoll verloren ins weiße Nichts des Bezahlschleiers starre, geschieht etwas Erstaunliches: Die milchig-unscharfen Buchstaben nehmen Kontur an. Erst vereinzelt, dann werden ganze Wörter und Sätze daraus. Ja, tatsächlich: Ich kann durch die Paywall schauen!

Es ist unglaublich. Manch einer mag sich an „das magische Auge“ erinnern, jene psychedelischen Bilder, denen das Auge plastische Formen zu entlocken vermag, hat es erst einmal den optischen Dreh raus. Mit der Paywall verhält es sich ähnlich. Dank etwas Übung werde ich schnell besser, und der Blick durch die weiße Wand bereitet mir kaum mehr Mühe. Ich stelle fest, dass die Texte dahinter deutlich besser sind als die des kostenlosen Angebots.

Da beginnt ein Artikel als Analyse der EU-Krise, wie ich schon Hunderte gelesen habe. Doch dann verschwindet er hinter dem Vorhang und entpuppt sich als hochinformativer Hintergrundbericht über die wahren Verbindungen unserer Regierung. Wer weiß schon, dass Angela Merkel als Staatsoberhaupt keineswegs frei agiert, sondern vor allem den Amerikanern als Handlangerin in Europa dient?

Später beginne ich einen Reisebericht über Israel. Nach einer Einleitung zu einer Fahrt durch die Negev-Wüste muss ich zum Weiterlesen meinen Trick anwenden. Die Landschaftsbeschreibungen finden ihr jähes Ende. Entsetzt lese ich von desaströsen politischen Verhältnissen, von einem repressiven Gottesstaat, dessen Existenz es in Frage zu stellen gilt – höchst interessant!

Logisch, dass für ein solch hohes journalistisches Niveau Geld nötig ist. Deshalb habe ich mich bei mehreren kostenpflichtigen Portalen angemeldet – und bin selbst überrascht! Den weißen Schleier lasse ich trotzdem nicht fallen: Zur Steigerung des erotischen Kitzels bleibe ich beim Lesen ausgeloggt.

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1 Kommentar

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  • „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Wann war das noch gleich? Ach ja, ich glaube, jetzt entsinne ich mich: Das war, als das Internet noch frei sein wollte – und damit eine Alternative zur realen Welt. Es war, als die Text-Verfasser noch geglaubt haben. Nicht nur an ihr Privatkonto und die eigene Großartigkeit, sondern auch an ihre LeserInnen. Damals war's, als "die ganz Cleveren" noch nicht auf ganzer Strecke gesiegt hatten und entsprechend beneidet und kopiert wurden von allen anderen.