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„Eine ungeheuerliche Volksverblendung“

Wahl Victoria Meneses von der Grundeinkommenspartei über Modelle, Visionen, Ziele – und Merkels Wahlversprechen

Die Digitalisierung macht die Politik der Vollbeschäftigung eher unwahrscheinlich Foto: Christian O. Bruch/laif

Interview David Joram

taz: Frau Meneses, Ihre Partei wirbt für ein monatliches Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE), Geld fürs Nichtstun also. Deutschland gilt als Land der Arbeit. Wie kann das BGE hier funktionieren?

Victoria Meneses: Wer BGE erhält, darf trotzdem arbeiten, das wäre nicht verboten. Aber ja: Wir Deutschen sind eine leistungsorientierte Gesellschaft. Deshalb sind die zwei häufigsten Fragen zum BGE immer: Wer arbeitet noch, wenn das BGE kommt? Und: Wie soll das BGE finanziert werden? Pauschal heißt es stets, das funktioniere ja eh nicht.

Was schlagen Sie vor?

Eine essenzielle Frage vorab: Können wir uns vorstellen, unserem Nachbarn Geld zu gönnen – ohne dass dafür irgendeine Leistung vollbracht wird?

Was glauben Sie?

Die BGE-Szene geht von einem positiven Menschenbild aus. Wir sehen den Menschen als kreatives, soziales, hochkomplexes Tätigkeitswesen. Aber der Mensch ist im Rahmen des hierarchischen, später kapitalistischen Klassensystems und der daraus resultierenden Leistungsgesellschaft so konditioniert worden, dass er vor allem an sich denkt. Auch deshalb müssen wir erst mal mit der Identifikation zur Lohnarbeit brechen, weg vom Effizienzdenken. Dass wir uns gegenseitig einen Wert geben, der sich auf unsere Tätigkeit bezieht, ist grotesk. Und Kunst, Kultur, Soziales wird kaum wertgeschätzt! Das BGE könnte verschüttete Potenziale freisetzen, weil es die Abhängigkeit von der Lohnarbeit mindert.

Trotzdem muss eine Gegenfinanzierung gewährleistet werden. Wozu rät die BGE-Partei?

Wir unterbreiten keine Vorschläge und führen keine Modelldiskussionen, weder über Finanzierung noch Höhe des BGE. Würden wir einen fixen Betrag angeben, etwa ein BGE von 1.200 Euro monatlich, würden wir nur auf diese eine Zahl reduziert. Doch dafür ist das Thema zu komplex. Wir reden über etwas, das einer Revolution gleicht. Ökonomisch und im philosophischen Sinne.

Gibt es Pläne, wie eine solche Revolution ablaufen könnte?

So ein gewaltiger Umbruch braucht Zeit. Im Groben kann man von drei Schritten sprechen. Erstens: aufklären und informieren. Viele Menschen wissen vom BGE quasi nichts. Die können sich also noch keine fundierte Meinung bilden.

Was kommt dann?

Zweitens bräuchte es eine gesamtgesellschaftliche Diskussion, ob wir das BGE wollen oder nicht. Dann erst würde Phase drei folgen: die Umsetzung. Unsere Teilnahme an der Bundestagswahl dient dem Ziel, den ersten Schritt anzugehen, aufzuklären und zu informieren.

Viele Deutsche fahren mit der aktuellen Politik gut, Kanzlerin Merkel will bis 2025 Vollbeschäftigung erreichen. Warum sollte die Mehrheit ein anderes Wirtschaftsmodell und soziales Sicherungsnetz wollen?

Vollbeschäftigung ist eine ungeheuerliche Volksverblendung! Frau Merkel umgeht damit nur die Komplexität der Herausforderungen. Nur drei Stichpunkte dazu: Automatisierung, Technologisierung, Digitalisierung. Aber die Gesellschaft fordert einfache Antworten. Und offensichtlich müssen Regierungen einfach antworten, damit sie weiterregieren können. Künftig aber werden Handwerksberufe größtenteils obsolet. Auch die sogenannte Mittelschicht, die jetzt noch vermeintlich sichere Berufe hat, ist betroffen. Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung, all das erledigen Maschinen künftig rationaler und schneller.

Wie könnte, wann auch immer, eine geeignete Übergangsphase hin zum BGE aussehen?

Soziale Leistungen könnten schrittweise entfallen und durch ein anteiliges BGE ersetzt werden. Ralf Boes von der Bürgerinitiative BGE Berlin schlägt ein 5-Stufen-Modell vor. So könnte in einem ersten Schritt für alle Studierenden der Bafögbeitrag über ein jährlich stufenweise eingeführtes BGE ersetzt werden. Gehen wir fiktiv mal von 200 Euro Bafög aus. Dann bekämen die Studierenden als Ersatz 200 Euro BGE im ersten Jahr, im zweiten 400 Euro, im dritten 600 Euro – bis zur bis dahin festgelegten BGE-Höhe. Alle anderen Einwohner aber auch. Niemand wäre schlechter dran.

Abstriche für niemanden, mehr Geld für alle. Klingt nach „Wünsch dir was“ – und etwas realitätsfremd.

Modelle zeigen, dass eine Finanzierung möglich wäre. Und was ist denn Realität? Der 40-Stunden-Job sorgt dafür, dass Menschen kaum bis gar keine Zeit mehr haben, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als ihrer Arbeit. Das führt dazu, dass manche teilweise überhaupt nicht wissen, warum Sie 40 Stunden arbeiten.

Wahrscheinlich, um eine Familie zu ernähren. Der Nachwuchs soll ’s ja gut haben.

Vollkommen richtig. Und bestimmte Wünsche, die an Einkommen gebunden sind, sollen sich auch erfüllen. Haus, Auto, eine neue Einbauküche. Aber Karriere machen spielt genauso eine Rolle.

Wer erfolgreich Karriere macht, kann eben den Nachwuchs besser ernähren. Was daran ist falsch?

Ist Karriere nicht vielmehr ein gewisser Status und hat mit gesellschaftlicher Anerkennung zu tun? Viele Lohnarbeiter würden wahrscheinlich lieber andere Tätigkeiten ausführen, wenn Sie nicht darauf angewiesen wären.

Woher wollen Sie wissen, ob Maurer nicht gern mauern?

Das weiß ich natürlich nicht. Tatsächlich sind Jobs, die von Akademikern abmoderiert werden, für die Betroffenen nicht unbedingt schlecht. Qualitative Umfragen zeigen: Müssten die Leute nicht mehr für ihr Einkommen arbeiten, würden Sie trotzdem ihren Beruf weiterführen.

Das BGE würde also vor allem den Konsum befördern.

privat
Victoria Meneses

30, ist Berliner Spitzenkandidatin der im September 2016 gegründeten Grundeinkommenspartei (BGE), die in allen Bundestagsländern zur Wahl steht. Meneses studierte International Business Administration in Frankfurt (Oder).

Es würde vor allem Existenzängste nehmen. Aber genau dar­auf beruht ja die kapitalistische Gesellschaft, auf Angst: vor sozialem Abstieg, davor, die soziale Absicherung zu verlieren. So lässt sich eine Gesellschaft besser kontrollieren. Anträge stellen, ständig beweisen, dass man Geld braucht. Ein wahnsinniger Psychoterror.

Haben Sie Angst? Zum Beispiel vor einem schlechten Ergebnis bei der Bundestagswahl?

Sehr gut wären zwei Prozent, aber generell ist das Ergebnis zweitrangig. Es wird nichts dar­über aussagen, ob die Deutschen das BGE wollen oder nicht. Das aktuelle System wurde über Jahrhunderte kultiviert. Das BGE ist so tief einschneidend für unser normiertes Denken und Verhalten, das dürfte ein generationsübergreifendes Projekt werden.

Auch etablierte Parteien wie Grüne oder Linke, aber auch die FDP, thematisieren das BGE. Wo im politischen Spektrum verorten Sie sich?

Aktuell wollen wir uns nirgendwo einordnen…

… so wie die großen Parteien!

Von diesem Politikgequatsche und Koalitionsgedöns halte ich nicht viel. Es wird vor allem um Macht gekämpft.

Und wenn Sie irgendwann die Macht hätten, das BGE einzuführen?

Das wäre schön, klar! Aber aktuell ist unsere Partei sehr heterogen. Von links bis rechts, Jung und Alt haben wir alles dabei. Deshalb sehen wir überhaupt keine Notwendigkeit, uns irgendwie zu positionieren. Ich hab da irgendeinen Wahlspruch im Kopf: Wir wollen nicht nach links, wir wollen nicht nach rechts, wir wollen nach vorne!

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