: Das Wahlergebnis lesen lernen
Zur Hermeneutik des Wählerwillens (1): Die kleineren Parteien zeigen es an – nun wird von der Politik eine Richtungsentscheidung erwartetVON DIRK BAECKER
Der Souverän hat gesprochen. Doch was hat er gesagt? Er hat sich der Aufforderung, eine Richtungsentscheidung zu treffen, widersetzt und hat damit im Wesentlichen festgestellt, dass dieses Land die Politik hat, die es verdient.
Mit dieser Wahl hat sich ein weiteres Mal bestätigt, dass dieses Land die letzten Ausläufer des Klassenkampfes inklusive des kuschelig misstrauischen Patronagesystems zwischen Kapital und Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg hinter sich hat. Statt sich nach den beiden Optionen der Maximierung von entweder Unternehmergewinn oder Arbeitsplatzsicherheit sortieren zu lassen, stutzt der Wähler die beiden großen Volksparteien gerade eben so weit, dass sie zum einen nach wie vor in der Verantwortung sind, zum anderen jedoch gezwungen sind, die Parameter der Situation zur Kenntnis zu nehmen.
Und diese Parameter werden von drei kleineren Parteien vertreten, die jetzt alle drei eine Größe haben, die es nicht mehr erlaubt, sie als Zünglein an der Waage zu behandeln, sondern die dazu zwingt, sie mit ihren Aussagen ernst zu nehmen. Auf dieser Ebene wird jetzt nicht mehr von den Wählern, sondern von der Politik eine Richtungsentscheidung erwartet. Es ist relativ gleichgültig, welche der beiden Volksparteien die Regierung bildet. Entscheidend ist, mit wem sie koalieren.
Die freien Demokraten stehen für eine Wählerschaft, die sich in einem Milieu nach wie vor leicht skeptisch zu Hause fühlt, mit dem sich die Politik in diesem Lande noch lange nicht angefreundet hat, nämlich im Milieu projektförmiger Organisationen in der Wirtschaft, in Interessenverbänden am Rande der Politik, in Bildung, Erziehung, Kultur und Wissenschaft, vielleicht sogar in der Religion, die nicht mehr hierarchisch integriert, sondern netzwerkartig differenziert sind.
In diesem Milieu sind zwei Dinge wesentlich, die Beweglichkeit und die Profilierung eines milieuspezifischen Zentrums, das klar macht, um welche Einsätze es geht und nach welchen Regeln um sie gespielt wird. Nichts stört hier mehr als die Behauptung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, der nur darauf hinausläuft, die Regeln zu verwischen, die Einsätze zu relativieren und die Zentren diffus werden zu lassen. Und man mache sich nichts vor. Dieses Milieu ist nicht nur das der höheren Angestellten und Zahnärzte. Im Gegenteil. Es ist auch das der Künstler und Forscher, der Designer und Trainer, der Lehrer und Kneipiers, das heißt all jener, die Bedarf an einer soliden Infrastruktur und an selektiven staatlichen Partnerschaften haben, aber an keinerlei Gemeinschaft, die darüber hinausgeht.
Die Grünen stehen für eine Wählerschaft, deren Milieu ähnlich fragil gebaut und ebenso typisch für den gesellschaftlichen Zustand ist. Hier geht es ja längst nicht mehr nur um die ökologische Korrektur der Industriegesellschaft, sondern um eine Vielzahl von Berufen und Arbeitsfeldern, in denen im Zweifel das intellektuelle Argument die größere Bedeutung hat als die Berufung auf Macht und Tradition. Die Grünen sind die Partei der Artikulation und damit der Bemühungen von Intellektuellen und Künstlern, Lehrern und Beamten, Entwicklungshelfern und Priestern, einer Gesellschaft zum Wort und zum Ausdruck, zum Streit und zur Selbstverständigung zu verhelfen, die begriffen hat, dass Kommunikation ihr Schicksal ist.
Und die Linken stehen für eine Wählerschaft, die interessanterweise noch am ehesten das alte Spiel der Volksparteien um Kapital und Arbeit weiterspielt, aber mit einer Akzentuierung, die neu ist und die man nicht mit den alten Tonfällen des Klassenkampfs verwechseln sollte. Es geht um nichts Geringeres als die Verweigerung jener von Bush dem Jüngeren in die Welt gesetzten Unterscheidung zwischen den haves und den haves-more, in die er eine „impressive crowd“ ausgerechnet auf einer Charity-Veranstaltung im Oktober 2000 eingeteilt hat und die genau jene haves-not in den blinden Fleck einer Gesellschaft rutschen lässt, die von „Katrina“ unübersehbar wieder an die Oberfläche gespült worden sind.
Die Thematik der Gerechtigkeit beleuchtet jenen Brennpunkt, an dem zur Entscheidung steht, ob wir vom Programm der Französischen Revolution, allen Mitgliedern der Gesellschaft die Teilhabe an der Gesellschaft sicherzustellen, Abschied nehmen oder nicht.
In diesem Sinne werden sich die Gespräche zwischen den Parteien jetzt darum drehen müssen, welchen Stellenwert diese drei Themen der Welt der Projekte, der Welt der intellektuellen Artikulation und der Welt der Gerechtigkeit erhalten können beziehungsweise welche angeblich größeren Dringlichkeiten es erlauben, diese drei Parameter nach wie vor in den Hintergrund zu drängen.
Zur Hermeneutik des Wählerwillens (2): Das Volk versteht besser als seine Repräsentanten, dass es keine „große Politik“ mehr geben kann
VON NORBERT BOLZ
Wer nach der Bundestagswahl nur Chaos sieht, kann nicht lesen. Das Ergebnis ist nämlich klar, extrem informativ und lässt sich in fünf Punkten resümieren.
1. Rot-Grün ist abgewählt worden.
2. Schwarz-Gelb ist, gleichsam vorausschauend, auch abgewählt worden.
3. Es gibt so viele hoffnungslose Arbeitslose, dass eine Partei des blanken Ressentiments die etablierten Grünen überholen kann.
4. Deutschland hat links gewählt.
5. Es gibt in unserer Bevölkerung keinen Willen zum Wechsel; der Stimmenanteil derer, die einen echten Systemwechsel wollen, beträgt lediglich 10 Prozent (FDP).
Das wird alle enttäuschen, die den berühmten „klaren Wählerauftrag“ erhofft haben. Sie müssen sich wohl auch in Zukunft damit abfinden, dass sich die Deutschen vor allem als negative Wertegemeinschaft artikulieren. Mit anderen Worten: Wir wissen ziemlich genau, was wir nicht wollen – und bei Gelegenheit dieser Bundestagswahl vor allem Hartz IV und Angela Merkel als Kanzlerin.
Womit wir beim amtierenden Kanzler wären. Die Gerd-Show geht weiter. Nachdem selbst die taz schon Nachrufe auf Rot-Grün (an denen auch der Autor dieser Zeilen mitschrieb) veröffentlicht hatte, gelang es Schröder als „personal brand“, die SPD im Alleingang aus einem hoffnungslos erscheinenden Stimmungstief herauszuholen. Against all odds, wie die Engländer sagen. Schon dafür gebührt ihm der Titel: größtes politisches Tier in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands.
Doch den eigentlichen Coup hatte sich Schröder für den Wahlabend selbst aufgehoben: die Selbstproklamation zum Kanzler – unabhängig vom Wahlergebnis. Damit beginnt die triumphale Endrunde des brillantesten Kanzlerdarstellers. Mit einem exemplarischen Akt des politischen Konstruktivismus hat Schröder am Wahlabend definiert, was der Fall ist: Frau Merkel ist vernichtend geschlagen worden – das trifft zu. Und Gerhard Schröder hat die Wahl gewonnen – und auch das trifft zu! Denn Schröder hat für sich die Wahl gewonnen; er misst sich nicht an Zahlen von 2002, sondern an den Erwartungen der Öffentlichkeit. Schröder hatte keine Chance und hat sie genutzt. Daraus leitet er den Anspruch ab, weiterhin Kanzler zu bleiben, auch wenn die Zahlen das nicht hergeben. Soziologen nennen so etwas charismatische Legitimität.
Gerhard Schröder hat jetzt den Höhepunkt seiner Selbstinszenierung erreicht – nun fehlt nur noch ein unheimlich starker Abgang. Dann könnte er als deutscher Clinton noch jahrelang umjubelt durch die Talkshows ziehen. Der Physikerin Angela Merkel ist das Experiment mit dem Explosivstoff „Wahrheit“ um die Ohren geflogen. Mit der Wahrheit kann man keine Wahlen gewinnen, und wer es trotzdem versucht, zeigt lediglich, dass ihm der Wille zur Macht fehlt. Kohls Mädchen ist jetzt auf dem Tiefpunkt einer Karriere, die mit der Emanzipation von ihrem politischen Ziehvater so eindrucksvoll begann. Man kann ihr glauben, dass sie Deutschland etwas „zurückgeben“ möchte. Ihrer Partei kann sie aber nur noch helfen, indem sie ins zweite Glied zurücktritt. Ohne Schröder und Merkel gäbe es dann eine Arbeitsperspektive für die große Koalition. Andere Koalitionen, also die rechnerisch möglichen Ampeln, wären – da muss man Westerwelle Recht geben – Hampeleien.
Das Volk hat wohl weniger Schwierigkeiten als seine Intellektuellen, zu begreifen, dass es in einer funktionierenden Massendemokratie keine „große Politik“ mehr geben kann. Es ist nämlich so, dass die Verwirklichung eines Werts unvermeidlich einen anderen Wert verwirkt – und damit dessen Wachhund auf den Plan ruft. So kommt es zur Kakophonie der politischen Öffentlichkeit. An diesen Missklang müssen wir uns genauso gewöhnen wie an den doppelten Standard der Reformbereitschaft: Wir alle wollen grundlegende Reformen; nur nicht solche, die uns persönlich etwas kosten. Dann kommt das große Sichdurchwursteln. Doch das wäre ja gerade nicht Stillstand. Die Schnecke von Günter Grass müsste sich bei diesem Gedanken eigentlich wohl fühlen. Hoffen wir auf Plisch und Plum.
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