Konrad Litschko über den Drang nach dem Schlussstrich: Die Aufklärung darf nicht ruhen
476 Prozesstage, 815 Zeugen, 4 Jahre Verhandlung. Der NSU-Prozess hat bereits jetzt historische Maße angenommen. Und es ist gut, dass er mit den Plädoyers nun auf sein Ende zusteuert. Schon lange hatte das Gericht signalisiert, sich sein Bild über die Schuld der Angeklagten gemacht zu haben. Lange auch hatte die Beweisaufnahme nichts Neues mehr zu der rechtsextremen Terrorserie hervorbringen können. Und dass Beate Zschäpe, die Hauptangeklagte, doch noch zur Aufklärung beitragen könnte: Es war nicht mehr zu erwarten.
Und die Bundesanwaltschaft setzt mit ihren Plädoyers zunächst ein klares Zeichen: Sie bricht mit der Opfererzählung Beates Zschäpes: Alle NSU-Taten waren allein das Werk von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Sie, Zschäpe, hingegen habe diese nicht gewollt und war nur die unterdrückte Mitläuferin. So hatte es die Hauptangeklagte selbst im Prozess durch ihre Anwälte schildern lassen. Und so hatte es auch ein von ihr bestellter Gutachter dargestellt.
Es könnte so gewesen sein. Nur: Es spricht fast nichts dafür. Zeugen schilderten Zschäpe als durchsetzungsstark, als aktive Rechtsextremistin, die Waffen sammelte und vor dem Untertauchen für mehr Radikalität plädierte. Und plötzlich ist sie nur noch die Geisel ihrer Kumpanen?
Die Ankläger gehen dieser Erzählung des harmlosen Neonazi-Anhängsels nicht auf den Leim: Zschäpe sei gleichwertige Mittätern gewesen, der „entscheidende Stabilitätsfaktor“ des Terrortrios. Und die Bundesanwälte haben dafür eine akribische Sammlung von Indizien zusammengetragen, die sie nun über Tage präsentieren. Befremdlich aber ist: Wie die Bundesanwaltschaft gleichzeitig ihren Drang nach einem Schlussstrich artikuliert. Strafrechtliche Verstrickungen von staatlichen Stellen habe es im NSU-Komplex nicht gegeben, betonte sie. Auch seien alle Opfer „willkürlich“ ausgesucht worden. Es habe – außer dem Trio und den vier Mitangeklagten im Prozess – keine weiteren Mittäter gegeben. Alles andere seien „Irrlichter“ und „Fliegengesumme in den Ohren“.
Allein: Es sind nicht wenige Opferfamilien, die überzeugt sind, dass lokale Helfer den Attentätern die teils versteckten Läden ihrer erschossenen Männer, Brüder oder Söhne gezeigt haben müssen. Es ist gleich eine Reihe von Zeugen, die beim Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter mehr als zwei Täter gesehen haben wollen. Und es sind schließlich auch Aufklärer in den Untersuchungsausschüssen wie der CDU-Mann Clemens Binninger, die an weitere Mittäter glauben. Alles Irrlichter? Wohl kaum.
In der Tat spricht vieles dafür, dass wir immer noch nur einen Teil der Wahrheit über den NSU-Terror kennen – wahrscheinlich auch nur einen Teil der Helfer und Mittäter. Dass sich die Bundesanwaltschaft jetzt derart festlegt, ist ein schlechtes Zeichen. Denn es liegt an ihr, nach diesen möglichen Unterstützern weiterzusuchen.
Man dürfe die Opfer und Gesellschaft nicht mit falschen Vorwürfen im NSU-Komplex verunsichern, mahnte die Bundesanwaltschaft. Das ist richtig. Die größte Verunsicherung der Opferfamilien indes rührt daher, dass da draußen noch Mittäter des NSU-Terrors frei herumlaufen könnten. Unberechtigt ist diese Sorge nicht. Und solange das so ist, darf die Aufklärung nicht ruhen.
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