Schuld-Debatte in Hamburg: Eignet sich die Rote Flora als Sündenbock?
Seit den G20-Krawallen fordern Politiker von CDU, FDP und SPD die Schließung des autonomen Zentrums „Rote Flora“ in Hamburg. Ergibt das Sinn? Zwei Standpunkte
Katharina Schipkowski sagt: NEIN.
Ich verstehe nicht, warum die Leute das nicht verstehen: Autonome haben keine Chef*innen. Niemand ruft aus Hamburg in Rom, Barcelona und Frankfurt an und sagt: „Ey, ihr könnt schon zum G20-Protest kommen, aber bitte benehmt euch.“ Weder die Rote Flora noch jemand anders hat so viel Einfluss auf autonome Strukturen, dass er oder sie die Spielregeln für Massenproteste aufstellen könnte. „Autonome“ organisieren sich eben autonom.
Nun sagen deren Gegner*innen: „Aber die Rote Flora hat sehr militant und intensiv nach Hamburg mobilisiert.“ Ja, das hat sie, weil sie sich an den Gipfelprotesten beteiligt hat. Niemand in Hamburg, außer Bürgermeister Olaf Scholz (SPD), wollte den G20-Gipfel in der Stadt haben. Die Massen waren dagegen. Aber der Gipfel wurde den Hamburger*innen gewaltsam aufgedrückt. Wir mussten uns auf einen unangenehmen Ausnahmezustand einstellen, auf polizeiliche Belagerung unserer Wohnviertel, auf permanenten Hubschrauberlärm und unsere Mobilität einschränken. Dabei war klar, dass für niemanden etwas dabei rumkommen würde. Dass der Gipfel eine teure Machtdemonstration sein würde und sonst nichts.
Soll man sich das ohne Widerspruch gefallen lassen? Natürlich nicht! Wo leben wir denn, dass die Regierung meint, sich gegen den Willen der Bevölkerung und gegen alle Maßstäbe der Vernunft alles rausnehmen zu können? Also haben die Hamburger*innen Protest organisiert. Und wenn man alle seine Bekannten einlädt, sagt man natürlich nicht: „Du darfst nur kommen, wenn du dich so und so verhältst.“ Es funktioniert eh nicht.
Es war trotzdem keine Option, nicht zu protestieren, und es war keine Option, nicht alle dazu einzuladen. Es war auch keine Option, nach den Spielregeln des Hamburger Senats und der Bundesregierung zu protestieren, die für das ganze Desaster verantwortlich sind. Das will auch niemand. Es gab bei der ganzen Angelegenheit für die Linken nicht viel zu gewinnen, es war ein Abwehrkampf.
Scholz wusste, was passieren würde, wenn er die Oberbösen der Welt mitten nach Hamburg holt. Er wusste, dass die Leute keinen Bock drauf haben, dass es sie wütend macht und dass Sachen kaputt gehen werden. Er hat es in Kauf genommen. Über die Schuldfrage müssen wir nicht weiter reden.
Gernot Knödler sagt: JA.
Dass die Rote Flora zum Sündenbock für die Ausschreitungen beim G20-Gipfel in Hamburg zu werden droht, hat sie sich selbst zuzuschreiben. Sie stilisiert sich selbst als Hort des Widerstands, und weil Politik mit Symbolen gemacht wird, muss sie die Verantwortung übernehmen.
Wenn die Polizei und der Senat trotz vielfältiger Warnungen die Lage falsch eingeschätzt haben sollten, so gilt das gleichermaßen für die Flora: Bei jedem Mai-Krawall konzentrieren sich die Ausschreitungen auf ihre Straße, das Schulterblatt – weshalb sollte das ausgerechnet beim G20-Gipfel, der direkt nebenan stattfand, anders sein?
Sich im Nachhinein darüber zu wundern, dass ausgerechnet das eigene Viertel „verwüstet“ wurde, klingt einfältig – zumal im Vorfeld des Gipfels schon die Einschätzung zu hören war, die Autonomen aus Südeuropa seien härter als die hiesigen.
Eine Demo „Welcome to Hell“ zu nennen, zeigt der Doppelbedeutung wegen zwar einen gewissen Sinn für Humor, doch „Willkommen in der Hölle“ haben die meisten doch wörtlich auf Hamburg bezogen und den Empfang der Gipfelteilnehmer. Nicht umsonst wurde am ehesten bei dieser Demo mit Gewalt gerechnet.
Wenn zu erwarten war, dass es Ausschreitungen wie beim G8-Gipfel in Genua geben würde, hätte sich die Flora im Vorfeld von Gewalt distanzieren müssen. So muss man ihr vorwerfen, dass sie in Kauf genommen hat, dass Menschen schwer verletzt werden. Und wofür bitteschön?
Etwa weil durch die Gewalt und Gegengewalt die Massen aufgerüttelt werden und nach einer herrschaftsfreien Welt ohne Kapitalismus schreien? Den biederen Leuten in Rahlstedt graust es vor dieser Art von „Herrschaftsfreiheit“. Die Mehrheit schlägt sich auf die Seite der Herrschenden, schreit nach mehr Polizei und Schließung von „rechtsfreien Räumen“ wie der Flora. Toller Erfolg!
Und wie rechtfertigt sich eigentlich die Forderung nach Abschaffung von Gewaltverhältnissen, wenn man selbst Gewalt ausübt – obwohl reichlich andere Protestformen zur Verfügung standen?
Der Verdacht drängt sich auf, dass viele dieser Männer ihrem Unbehagen in der Zivilisation freien Lauf gelassen haben. Das war ein Amoklauf – bloß ohne Feuerwaffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Wirtschaftspolitik der FDP
Falsch und verlogen
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
Auflösung der Ampel-Regierung
Drängel-Merz
+++ Nach dem Ende der Ampel +++
Scholz lehnt Vertrauensfrage vor Januar ab
Trumps Sieg bei US-Präsidentschaftswahl
Harris, Biden, die Elite? Wer hat Schuld?
Schönheitsideale in der Modewelt
Zurück zu Size Zero