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Das Panoptikum der EitelkeitenKOMMENTAR VON BETTINA GAUS

Nach all den Klagen über chaotische Verhältnisse und den drohenden Abgrund, an dem Deutschland jetzt angeblich steht, ist es höchste Zeit, eine Lanze für die Wähler zu brechen. Die haben nämlich ein ungewöhnlich vernünftiges Ergebnis zustande gebracht. Natürlich nicht einzeln, weil ja niemand hundert Prozent nach gusto verteilen darf. Deshalb gibt es auch den gerne zitierten „Wählerwillen“ nicht, sondern lediglich eine Summe unterschiedlicher Meinungen. Von denen können viele ganz idiotisch sein. Aber das Gesamtbild ist ein schöner Anblick.

Ohne das Panoptikum der Eitelkeiten, das ein zu Recht politikerverdrossenes – nicht: politikverdrossenes – Publikum seit Tagen zu besichtigen gezwungen wird, gäbe es kein großes Problem, sondern lediglich die Verpflichtung, das Ergebnis der Bundestagswahl ernst zu nehmen. Das ist nämlich sehr viel klarer, als die seltsamen Rangeleien von Spitzenpolitikern derzeit nahe legen: Eine große Mehrheit der Bevölkerung steht Veränderungen nicht prinzipiell ablehnend gegenüber, will aber den Sozialstaat nicht wegreformiert sehen. Eine relevante Minderheit wünscht, dass Positionen, die grundsätzlich vom Konsens der Altparteien abweichen, im Parlament gehört und berücksichtigt werden müssen. Diese Minderheit hat links gewählt.

Auf dieser Grundlage ließen sich gleich mehrere sinnvolle Koalitionen bilden. Wenn nicht persönliche Rachegelüste, Ambitionen, Verletztheiten, Vorurteile und ein bemerkenswertes Maß an Sturheit dies verhinderten. Mit Politik hat all das nichts zu tun. Das politische Führungspersonal verschanzt sich im Bunker. Die Union dementiert heftig, dass sich in ihren Reihen überhaupt jemand darüber Gedanken macht, weshalb der Wahlausgang für sie so enttäuschend war. Die SPD muss da nichts dementieren – die findet ihr Ergebnis ja ganz toll. Und beschäftigt sich im Übrigen mit Taschenspielertricks.

Die staunende Öffentlichkeit erlebt ein Ende aller Gewissheiten. Das könnte produktiv sein, wirkt aber bislang nur zerstörerisch. Die Mehrheit der politischen Klasse legt derzeit sehr viel mehr Unvernunft an den Tag als die Bevölkerung.

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