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Prestigeprojekt ESC

Europa Kiew wollte diesen Eurovision Song Contest unbedingt – und hat sich nun für das europäische Pop-Event fein gemacht

Eine Farbe fehlt am Regenbogen – kein Platz! Foto: Zuma Press/imago

Aus Kiew Jan Feddersen

Die Stiefmütterchenrabatten leuchten frisch. In Gelb und in Blau, in den ukrainische Nationalfarben. Überall, scheint es, hängen Flaggen Europas. Das ist schon mal ein Unterschied zu dem Frankreich, von dem Marine Le Pen träumte, oder dem, was im Großbritannien Theresa Mays erwünscht ist: Europa – buchstabiert wie EU. Die floralen Stadtdekorationen verweisen stets auf eine Marke: „Eurovision“. Ob auf dem Maidan, dem zentralen Platz, an tausend anderen Stellen oder gar auf dem Prachtboulevard der Kreschatik-Straße, auf dem sogar eine ESC-Flaniermeile mit Bühnen und Jahrmarktsständen aufgebaut wurde: Es ist unvermeidlich, die Werbetafeln und Zeichen des „Hier wird es-sein“ zu sehen.

Wäre es nach den russischen Nachbarn gegangen, hätte diese Stadt niemals den prestigeträchtigen Eurovision Song Contest abhalten dürfen. Kaum hatte die ukrainische Sängerin Jamala im vorigen Jahr in Stockholm den ESC gewonnen, hieß es aus Moskau, der eigene Sänger, Sergej Lazarev – der immerhin Dritter wurde – sei der eigentliche Sieger, außerdem sei die Sicherheitslage in der Ukraine schwer bedürftig, und auch finan­ziell sei das ganze Ding nicht zu stemmen.

Und das stimmte auf gewisse Weise sogar. Beim ESC-verantwortlichen Sender standen bis vor vier Monaten nicht einmal die Manager des Projekts fest, weil deren Vorgängercrews gefeuert wurden. Die geldlichen Fragen waren auch nicht geklärt, die Summen jedenfalls werden die TV-, Kommunal- und andere Budgets noch einige Zeit als zu tilgende Schulden mit sich schleppen. Aber, so heißt es aus dem ukrainischen Fernsehen: Wir wollten den ESC und wir wollten ihn jetzt, wir hatten im Blick, dass Kämpfe rund um den Maidan um unsere Freiheit nicht in Vergessenheit geraten.

Maidan – das waren vor drei Jahren Volksaufstände gegen das kremlhörige korrupte Regime und für so etwas, was man Europa nennen muss: Bloß nicht wieder Sowjetunion. Jamala, die krimtatarische Sängerin, war – und ist – das perfekte Symbol: Die ESC-Siegerin vom vorigen Jahr wird ein Teil der Show am Samstag sein, man darf dann abermals bestaunen, dass sie mit diesem überhaupt nicht mainstreamigen Lied bei diesem auf Pop getrimmten Wettbewerb gewinnen konnte: Jamala war es auch, die das Motto dieses ESC in der Ukraine wesentlich mitbestimmt hat: „Celebrate Diversity“.

Verschiedenheit feiern – das ist freilich auch im metropolen Kiew gar nicht so einfach. Selbst der aus sowjetischer Zeit stammende hohe Stahlbogen über dem mächtigen Fluss Dnipro, der für die Eurovision mit dem Regenbogen koloriert worden ist, durfte dies nicht ohne nationalistischen Streit. Rechte Kräfte sagten: Regenbogen? Ist das nicht das Zeichen der Schwuchteln? Und klar, wenn das so ist – muss er weg. Er blieb, bis heute, wenigstens zur Hälfte. Dass da die LGBTI*-Community protestierte, weil man das frühere, 1982 eingeweihte Signum russisch-ukrainischer Freundschaft (!) gern bis zur Gay Pride Parade im Juni bewahrt hätte, versteht sich von allein. Es soll, so wollen es die rechten Mi­lieus, Montag wieder auf Titangrau zurückgewaschen werden: So ein Schmuck für die Stadt, so sagen sie, passt nicht zur Ukraine der tapferen Familienväter und -mütter.

Aber wie die Kiewer genau fühlen, da nun der Eurovi­sions­tross in ihre Stadt einfällt beziehungsweise von diesem ja schon viele tausend Menschen eingefallen sind? Was auffällt, ist eine erstaunliche Gelassenheit. In Restaurants, nicht allein jenen, die eurovisionswerbend sind, sind Hilfsangebote für die ausschließlich kyrillisch gehaltenen Speise- und Getränkekarten überbordend. In den Straßen, hat man sich verlaufen, ist alles sicher. Wofür, wiederum überaus sichtbar, auch die vielen, sehr vielen, in Deutschland undenkbaren Sicherheitsmenschen, Polizei, Securityleute allmöglicher Zuständigkeit stehen. Anders als beim ESC 2009 in Moskau stehen oder gehen sie nicht mit drohenden Körpern, sondern eher zurückhaltend, fast gelangweilt.

Kiew immerhin scheint ESC nicht wie ein Alien wahrzunehmen. Vor zwölf Jahren, nachdem Ruslana, die Sängerin der Orangen Revolution, die Eurovisionstrophäe gewonnen hatte, wusste man in Kiew das Event nicht recht zu nutzen, um sich in Europa als Land der Europäer zu empfehlen. Damals wirkte die ukrainische Hauptstadt noch wie ein abgemagertes postsowjetisches Megakonstrukt, das sich als Stadt ausgibt, schmutzig und laut.

Gemessen an wie durch Ohrenstäbchen geputzte Städte wie Paris, London, Hamburg oder Zürich ist dieses Kiew allerdings nichts als ärmlich. Selbst die SUV-Dichte der Neureichen ist geringer als die in Moskau oder Warschau. Wo in wohlhabenden Metropolen Kehrmaschinen die Straßenränder reinigen, sind dies in Kiew Männer und Frauen mit Reisigbesen.

Dass dieser ESC – anders als der reibungslos funktionierende in Stockholm 2016 – viel weniger kostet, viel geringere Höflingsleistungen der Gastgeber (Bus-Shuttle-Services zum auswärts gelegenen Messezentrum etwa) bietet, spricht für Kiew, nicht gegen es. Die größte europäische Popshow darf sich vielmehr auf 700 Volunteers verlassen: junge Menschen, oft ukrainischer Herkunft, die in anderen europäischen Ländern leben, studieren oder arbeiten und ihrer alten Heimat aufhelfen wollen – kein schlechtes kulturelles Kapital eines Landes, dessen Bürgerkriegstote erst vor Kurzem beerdigt wurden und sich insofern nun um die Anlässe der Aufstände kümmern muss: überbordende Korruption und Armut an ökonomischer Zukunft.

Das kann dem europäischen Publikum am Samstagabend – oder schon bei den beiden Semifinals des ESC, Dienstag und Donnerstag – nicht vermittelt werden: Wie rückständig und aufbruchswillig dieses Land ist. Und dass es einen ebensolchen Schub gern hätte durch den ESC wie 2002 Estland oder im Jahr darauf Lettland. In Aserbaidschan 2012 hatten am Ende die Mühen des autokratischen Re­gimes keinen Erfolg: Mit dem ESC in Baku war dieses Land als antidemokratisch profiliert – da nutzten die Glamourkulissen gar nichts.

62. Eurovision Song Contest

Wann und wo: Grand Final, Samstag, 21 Uhr (ARD), aus Kiew, Messezentrum

Favoriten: Italien, Portugal, Belgien, Bulgarien, Schweden.

Letzter Platz: Titelverteidiger ist Deutschland. Sängerin Levina ist die stylishste Sängerin unter allen und, besonderer Akzent, nicht in Blütenweiß gewandet.

Abstimmung: Jurys und Televoting, je zur Hälfte gewichtig.

Einstimmung: Doku auf Arte: „Zwölf Punkte für einen Hit“, Freitag, 21:45 Uhr.

Der Autor: Jan Feddersen ist taz-Redakteur. Er bloggt auf der NDR-Plattform eurovision.de über den ESC. Mehr auf taz.de und in der taz.am wochenende.

An der musikalischen Auswahl des eigenen Beitrags hat der ukrainische Fernsehsender auch schon erkennen lassen: Nein, das Ding wollen wir nächstes Jahr nicht noch einmal ausrichten müssen. Die Band O.Torwald spielt humorlosen Rock, wenngleich sie der einzige Act bei diesem ESC ist, die es mit diesem Stil probiert. Aber Punkte – nein, das wird nix.

Im nächsten Jahr wird das Event in ruhige Gewässer wechseln, das scheint festzustehen. Italiens Francesco Gabbani, der Portugiese Salvador Sobral oder die Belgierin Blanche sind die Favorisierten – aus Ländern der EU, die die politische Aufladung des ESC mit schierer Unaufladungsfähigkeit unterlaufen werden. Die Ukraine gäbe viel dafür, genau diese Normalität zu haben.

Vom russischen Boykott dieses Fests spricht keiner mehr: Es sind ja russische Besucher*innen hier, es gibt Journalisten aus Moskau, die ins Land gelassen wurden. Der Unterschied, der sie von den Abgewiesenen trennt, ist simpel: Sie feierten die Okkupation der Krim nicht als Heldenakt – und waren deshalb auch nicht in den Listen des Geheimdiensts namentlich notiert.

Jamala sagte mir im vorigen Jahr: „Mein Land wird viel Arbeit haben, wenn ich gewinne. Es wird Geld kosten. Das müssen wir aber schaffen. Die Toten des Maidan sollen nicht vergessen werden.“

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