Protest gegen Verdrängung in Kreuzberg: Rückwärtsdemo gegen Zalando
Auf der Cuvrybrache sollen Büros entstehen. Die realdadaistische Bergpartei hat deshalb den Geist von Kreuzberg 36 zu Grabe getragen.
„36 R.I.P.“ und „Burn Zalando“ steht auf dem aus Pappe gebastelten Sarg. PassantInnen gucken belustigt, die anwesenden PolizistInnen eher mürrisch. Ständig müssen sie Menschen auf die Schultern tippen, um ihnen zu bedeuten, dass sie jetzt abbiegen müssen – rückwärts demonstrieren will gelernt sein.
„Dies ist die weltweit erste Rückwärtsdemo – für den vorzeitigen Rückbau des Bürohauskomplexes“, ruft Pastor Leumund in das Megafon. Der Mann mit dem grauen Bart, dem schwarzen Zylinder und der Uniform, auf der groß das Wort „Deserteur“ prangt, ist Vorsitzender der „Bergpartei, die Überpartei“ – einem selbst ernannten ökoanarchistisch-realdadaistischen Sammelbecken und an diesem Abend Gastgeber der Trauerveranstaltung.
„Auf der Cuvrybrache haucht der Wrangelkiez gerade sein Leben aus“, hatte die Partei eine halbe Stunde zuvor erklärt. „Auf der größten und letzten Brache an der Spree in Kreuzberg 36 wird bereits mit dem Bau eines gigantischen Bürokomplexes des internationalen Versandhandels mit Blitzkriegs-Strategie begonnen.“ Mehr als 80 Menschen haben sich am Spreeufer neben dem Bauzaun versammelt, der die Brachfläche von der Cuvrystraße abtrennt.
Zwei junge Frauen halten ein paar Grashalme und Gänseblümchen in der Hand, eine andere Trauernde hat einen Strauß vertrockneter Kornblumen dabei. Ein Mann versucht sich mit seiner Harmonika am Trauermarsch, ein spontan gebildeter Trauerchor stimmt ein – rutscht aber immer wieder in den „Imperial March“ der Star-Wars-Reihe ab.
„Der Gewinner mit der schlechtesten Idee“
Hinter der Pressspanwand ragen Baukräne auf, im Hintergrund erheben sich die Überreste der Kunstwerke des Graffiti-Künstlers Blu, die im Dezember 2014 schwarz übermalt wurden – mit Zustimmung des Künstlers. „Im Jahr 2014, nachdem wir Zeuge der Veränderungen wurden, die in den letzten Jahren geschahen, hatten wir das Gefühl, es ist Zeit, die beide Wände auszuradieren“, hatte dieser damals erklärt.
Auf der Uferbrache neben den Wandgemälden hatten lange Zeit zahlreiche Menschen in Holzhütten gelebt. Die Fläche war im September 2014 geräumt worden. Nun soll dort ein Bürokomplex entstehen. Einziger Mieter der geplanten 34.000-Quadratmeter-Fläche: der Onlinehändler Zalando.
Empfohlener externer Inhalt
„Wir übergeben einen Sarg und den Geist von Kreuzberg an die Spree. Zwei Millionen Träume sind hier zerplatzt und machen Platz für den Gewinner mit der schlechtesten Idee“, ruft Leumund ins Megafon. Und: „Die Galgen hängen tiefer. Ein Schwan fällt vom Dach.“ Ein Touristenboot fährt vorbei. „Wir trauern hier! Es ist sehr traurig“, ruft Leumund ihm über das Wasser hinweg zu.
Hinter ihm stimmen die Trauernden in lautes Wehklagen ein. „Zalando – ham wa nicht bestellt“, ruft eine Frau, alle anderen stimmen mit ein.
„Nebenbei könnten ja auch Leute den Bauzaun anzünden oder aufs Gelände eindringen“, sagt Leumund, während er mit einem „Burn, Zalando burn“-Schild wedelt. „Das hat dann aber nichts mit uns zu tun“. Am Ende der Veranstaltung wird die Polizei trotzdem seine Personalien aufnehmen – weil er angeblich zu Straftaten aufgerufen habe, wie die Bergpartei in einer Pressemitteilung erklärt.
Sarg für alle Gelegenheiten
„Ich bin ein ehemaliger Bewohner der Freien Cuvry“, sagt ein Mann ins Megafon – einen „Gastprediger“ nennt Leumund ihn. „Ich hatte meine Hütte unter dem großen Baum, der dort drüben stand und den es heute auch zu betrauern gilt.“ Er ruft die Anwesenden auf, weiter gegen die Bebauung der Brache zu protestieren. „Wer heute bei Zalando Schuhe bestellt, trampelt morgen auf der Cuvry herum.“
Am Ende des Trauermarsches findet sich die Prozession wieder am Ausgangsort zusammen – an der Spree. Langsam senkt sich der Sarg ins Wasser. „Keine Schrippen für Zalando“ skandiert die Menge. Mit einem lauten Platschen landet der Sarg in der Spree, ein letztes mal setzt lautes, realdadaistisches Wehklagen auf Kommando ein. Ein zufällig vorbeifahrendes Schlauchboot hilft anschließend, den Sarg zu bergen. Angesichts der voranschreitenden Verdrängung im Kiez wird es wohl noch mehr Anlässe für Beerdigungen geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene