Kommentar Stichwahl in Frankreich: Den Albtraum verhindern
Auch wenn es gute Gründe gibt, an Macrons politischem Programm zu zweifeln: In der Stichwahl gibt es zu ihm keine Alternative.
E s ist die Aufgabe des Journalismus, Alarm zu schlagen. Daher meine beunruhigte Äußerung. Vorneweg und ganz ehrlich gesagt: Emmanuel Macron hat einen unglaublich symbolischen Fauxpas begangen, als er sich nach dem Sieg im ersten Wahlgang schon als zukünftiger Präsident präsentierte. Das hat Zweifel aufkommen lassen. Nicht an der Notwendigkeit, für Macron zu stimmen. Jenen Wählern, die in ihm nicht die Erfüllung all ihrer Wünsche sehen, sei erneut gesagt: Es geht darum, einen Albtraum zu verhindern.
Da ist kein Raum für Zweifel. Das sehen sowohl die Gewerkschaft CGT, die so wenig auf einer Linie mit ihm ist wie irgend möglich, als auch der Linkspolitiker Jean-Pierre Chevènement, der weder für eine proeuropäische Politik noch für den Sozialliberalismus etwas übrig hat.
Tatsächlich stellt sich aber diese eine Frage: Wird Macron, der teuflisch begabt, aber ein Neuling, der selbstsicher, aber auch in gewisser Weise narzisstisch ist – wird dieser Mann die Stimme nicht nur der gesetzten Lifestyle-Linken, der sogenannten Bobos, und der digitalen Boheme, sondern der ganzen Republik sein?
Man wird standhalten müssen, den Schock aushalten, angesichts der fremdenfeindlichen Kandidatin mit ihrem mechanischen Lachen, mit ihrer eisenharten Rhetorik, angesichts dieser selbsternannten Volksrepräsentantin, die sich gegen die Eliten zu stellen behauptet. Wir werden uns nicht lächerlich machen und Empfehlungen aussprechen. Aber die Erwartungen eines Bürgers sind hier zu formulieren.
64, ist Chefredakteur der Tageszeitung Libération, sein aktuelles Sachbuch „Le réveil français“ (Ed Stock, 2015) ist ein Plädoyer für mehr Optimismus in Frankreich.
Die Wahlarithmetik ist unerbittlich. Daher ist Folgendes zu erwarten: Mit seinen 24 Prozent im ersten Wahlgang hätte ein zukünftiger Präsident Macron eine nichtmacronsche Mehrheit hinter sich. Wie will er die überzeugen, wenn er nicht das Verbindende in den Vordergrund stellt; und nicht jenes, was trennt?
Die taz und die französische Tageszeitung Libération machen journalistisch gemeinsame Sache. Wir arbeiten erst zur Wahl in Frankreich und dann zur Bundestagswahl zusammen. Dieser Beitrag ist Teil der Kooperation.
Volkes Stimme zuhören, moralisch sein, das soziale Gleichgewicht respektieren, den Sozialstaat hochhalten, unablässig an einem neuen Europa arbeiten; jenseits dieser Minimalzusicherungen verspricht Macron furchtbare Enttäuschungen.
Sein Sieg bleibt das wahrscheinlichste Szenario. Aber noch einmal: Es macht einen großen Unterschied, ob Marine Le Pen bei 35 Prozent oder bei 45 Prozent landet. Es ist der Unterschied zwischen einem geschlagenen und einem siegreichen Front National. Zwischen einer beruhigten und einer bedrohten Republik.
Übersetzung aus dem Französischen: Frédéric Valin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind