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Dokutheater in HamburgReise durch ein Krisengebiet

Was Menschen im sicheren Deutschland verunsichert, fragt das Rechercheprojekt „Atlas der Angst“. Gernot Grünewald bringt es auf die Bühne.

Vermisst die Verwerfungen der „German Angst“: Das Stück „Atlas der Angst“. Foto: Armin Smailovic

Hamburg taz | Wenn am heutigen Samstagabend im Hamburger Thalia Gaußstraße Gernot Grünewalds dokumentarische Inszenierung „Atlas der Angst“ Premiere feiert, wartet auf die Zuschauer eine ungewöhnliche Theaterproduktion. Denn einen „Atlas der Angst“ zu erstellen, war zunächst das Ziel eines Rechercheprojektes des langjährigen Thalia-Hausfotografen Armin Smailovic, der sich dafür mit dem freien Journalisten Dirk Gieselmann zusammentat.

Im Sommer 2016 reisten die beiden durchs Land, an 100 Orte von Norden nach Süden, immer wieder Richtung Osten, etwas seltener gen Westen. Erkunden wollten sie mit 100 Texten und 100 Fotos, was so viele Menschen in Deutschland heute so verunsichert. Wovor haben sie, quer durch alle Schichten, Angst? Was macht Deutschland zum Krisengebiet?

Wovor sorgen sich die „besorgten Bürger“ und warum müssen so viele der Neuankömmlinge, die doch gerade erst Krieg und Verfolgung entkommen sind, wieder Angst um ihr Leben haben?

Dabei trafen sie auf einen Geflüchteten, der Opfer eines Angriffs geworden war, ebenso wie auf die Opferberaterin, die nun helfen sollte. Sie fuhren zu den Orten der Anschläge in München, Ansbach und Dresden und stellten sich die Frage, ob es einem Kind, das gerade am Kiosk mühsam die Zeitungsschlagzeile „Wir sind im Krieg“ entziffern kann, hilft, wenn man ihm sagt, es brauche keine Angst zu haben, wenn es eben doch welche hat.

Mitte März sind die Ergebnisse der Recherche als Band erschienen (Eichborn 2017, 224 S., 24 Euro), kurz zuvor war ein Auszug daraus als Titelgeschichte im Zeit-Magazin zu sehen.

Eher durch Zufall stieß Gernot Grünewald auf das Projekt. In der Gaußstraße hatte er mit „ankomen. Unbegleitet in Hamburg“ 2015 bereits ein Dokumentartheaterprojekt mit Geflüchteten realisiert und suchte nach einem neuen dokumentarischen Stoff, um sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

Für den Regisseur war die Zusammenarbeit dabei eine besondere Herausforderung. „Normalerweise recherchiere ich für meine Arbeiten selbst“, sagt er, „diesmal gibt es die Recherche als Buch.“

Besonders haben Regisseur GernotGrünewald dieverschiedenenZeitebenen beschäftigt,die Smailovicsund GieselmannsReiserecherchen offenlegen

Für seine Theaterfassung hat Grünewald den Mix aus spontanen Beobachtungen, zufälligen Begegnungen und verabredeten Interviews auf eine spielbare Länge von anderthalb Stunden gebracht, hat manches Erreiste, Erkundete und am Ende Dokumentierte weggelassen, anderes stärker fokussiert.

Man hört Auszüge aus Texten, die sprachlich verdichtet und gelegentlich kommentiert werden. Und man sieht Fotomaterial und Videoprojektionen von Smailovic, der bereits zu Branko Šimićs Dokutheaterprojekt „Srebrenica – I counted my remaining life in seconds“ sein ganz eigenes Bildmaterial beisteuerte.

„Wir versuchen keinen Abend zu machen, der Angst in all ihren Facetten erklärt“, sagt Grünewald, „sondern mit dem gewonnenen Material fragmentarisch umzugehen, um auf diese Weise einen eigenen Atlas zu erstellen“ – und dabei eine angemessene Form der Wiedergabe des Eingefangenen zu finden. Denn all die Menschen zu spielen, die Smailovic und Gieselmann auf ihren Reisen getroffen haben, sei anmaßend. „Wir versuchen behutsam mit ihnen umzugehen, sie anzuzitieren“, sagt Grünewald.

Was ihn besonders beschäftigt habe, seien die verschiedenen Zeitebenen, die Smailovic' und Gieselmanns Recherchen offenlegen. Da trage jemand, der den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt habe, eine Bombenkellerangst mit sich herum, die nicht nachvollziehen könne, wer das Glück habe, noch keinen Krieg erlebt zu haben.

„Da gibt es einen Bosnier“, erzählt Grünewald, „der 1992 während des jugoslawischen Bürgerkrieges zu uns kam, der gut integriert ist und der dennoch sagt: ‚Ich bin immer noch ein Flüchtling, das hört nie auf‘. Und es gibt den Geflüchteten, der im letzten Jahr fast im Mittelmeer ertrunken wäre – und alle leben hier zusammen.“

Aber in einer Gesellschaft der Angst lebe man eben zusammen, ohne dass man voneinander wisse und ohne dass man sich aufeinander beziehe. Es ist die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Geschichten, die Grünewald so spannend und herausfordernd findet. „Alles steht erst mal unverbunden nebeneinander und bildet dennoch ein Ganzes“, sagt er.

Deshalb setzt er vor allem auf das Zusammenspiel der verschiedenen Darstellungsformen jenseits des reinen Textes und des reinen Bildes, um eine sinnliche Aufladung und Assoziationsräume für die Zuschauer zu schaffen. Das, sagt Grünewald, sei eben der „Theatermehrwert“: „multiperspektivisch mit ganz verschiedenen theatralen Mitteln eine Geschichte zu befragen“.

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1 Kommentar

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  • Dass es einem Kind, das gerade mühsam eine bedrohliche Zeitungsschlagzeile entziffert hat, hilft, wenn man ihm sagt, dass es keine Angst zu haben brauche, glaube ich nicht. Ich glaube nicht einmal, dass so etwas erwachsenen Menschen hilft. Es hilft vor allem dann nicht, wenn der Mensch, der Angst verspürt, dem, der ihm sagt, dass er keine zu haben braucht, nicht traut.

     

    Im besten Fall bleibt beim Verängstigten nur das Gefühl zurück, er hätte etwas falsch verstanden, sei so was wie ein dummes kleines Kind. Geht es nicht ganz so gut, entsteht der Glaube an die sogenannte „Lügenpresse“. Im schlimmsten Fall entwickelt sich das furchtbare Gefühl, extreme Aggression wär eine Lösung fürs Problem und Führung sei, wenn starke Männer harte Hände walten lassen.

     

    Nein, wir sind hier noch nicht wieder in einem Krieg. Aber wir werden nicht mehr all zu lange brauchen bis da hin, wenn wir so weiter machen wie bisher. Uns helfen dann auch keine Bühnenstücke mehr, die uns Atlanten an die Köpfe werfen, in denen Karten Angstverteilung räumlich widergeben. Die machen alles nur noch schlimmer, als es schon ist.

     

    Es reicht mir nicht, wenn die Theaterleute „multiperspektivisch mit ganz verschiedenen theatralen Mitteln eine Geschichte […] befragen“. Das hat in meinen Augen keinen theatralen „Mehrwert“. Dass alles schlimm ist, ahnten wir ja schon. So wie das Kind, das da am Kiosk steht und buchstabiert, haben wir Angst. Und wenn Theaterleute unsre Angst bebildern, geht sie davon bestimmt nicht weg. Sie geht ja nicht mal davon weg, dass das Theater sagt, dass wir uns eigentlich nicht fürchten brauchen.

     

    Theater müsste uns schon sagen, wie es darauf kommt. Und dabei müssten wir ihm auch noch glauben wollen. Im Augenblick hat das Theater leider selber Angst. Es jammert permanent, dass es demnächst verhungern wird. Es kann uns unsre Angst nicht ausreden. Dafür traut dem Publikum ganz einfach nicht genug.