piwik no script img

Museumschef über Desinteresse an Kunst„Das Wissen bröckelt“

Christoph Martin Vogtherr, neuer Chef der Hamburger Kunsthalle, über die Schwierigkeit, neue Kreise für Kunst zu interessieren.

Will Verständnis für Kunst schaffen: Christoph Martin Vogtherr Foto: Miguel Ferraz
Interview von Petra Schellen

taz: Herr Vogtherr, braucht jeder Mensch Kunst, oder ist das ein Dogma interessierter Kreise?

Christoph Martin Vogtherr: Ich glaube, nicht jeder Mensch braucht Kunst, aber sehr viele. Und einigen würde es gut tun, mit Kunst in Berührung zu kommen. Kunst transportiert eine grundlegende Energie, sonst wäre sie keine Konstante seit Zehntausenden Jahren. Aber die Art, wie man sich mit Kunst verbindet, ändert sich, und Museen sind da derzeit ein wichtiges Vehikel.

Aber ein armes. Warum sind Sie von der Londoner Wallace Collection an Hamburgs unterfinanzierte Kunsthalle gewechselt?

Während der Jahre, in denen ich die Londoner Sammlung geleitet habe, wurden die Subventionen für alle Nationalmuseen um 33 Prozent gekürzt. Auf kommunaler Ebene war es noch ärger, da wurden viele Museen geschlossen. In anderen Worten: Museen sind weltweit strukturell unterfinanziert, aber damit kann man arbeiten. Auch in Hamburg müssen wir durch Eigeneinnahmen und Fundraising sicherstellen, dass alles funktioniert. Aber man klagt hier auf hohem Niveau.

Im Interview: Christoph Martin Vogtherr

52, Kunsthistoriker, Mediävist und Archäologe, ist seit Oktober 2016 Direktor der Hamburger Kunsthalle. Zuvor war er neun Jahre an der Londoner Wallace Colleciton tätig, zunächst als Kurator, seit 2011 als Direktor

Sie brauchen gar nichts?

Die Frage kommt zu früh; so gut kenne ich die Strukturen hier noch nicht. Tatsache ist: Wir haben ein weitgehend saniertes Haus in sehr gutem Zustand. Noch nicht saniert ist im Altbau der Bereich für Zeichnungen und Druckgrafik, das Archiv und die Bibliothek. Außerdem müssen wir die Zuständigkeiten für Neue Medien zusammenführen.

Außerdem wollen Sie die Sammlung ins Zentrum rücken. Wird es keine Sonderausstellungen mehr geben?

Ausstellungen und Sammlungspräsentationen sollten in einem guten Verhältnis stehen, ohne dass ich mich auf Prozentzahlen festlegen möchte. Der internationale Kunstbetrieb hat ja absurde Ausmaße erreicht. Da hat eine Beschleunigung stattgefunden, die niemandem mehr gut tut.

Mit Sonderausstellungen in immer kürzerer Folge.

Ja, Kunstwerke werden stark beansprucht, wenn sie häufig auf Reisen in andere Museen geschickt werden. Das führt auch zu einer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne bei den Besuchern durch schnell wechselnde Ausstellungen. Einige Museen reagieren, indem sie die Sammlung als Sonderausstellung betiteln – und plötzlich sind alle begeistert.

Wie die Kunsthalle mit ihrer Reihe „Honey, I Rearranged The Collection“.

Ja. Und das zeigt, wo das Problem liegt: dass man unglaublich gute Sachen im Haus hat, die nicht bekannt sind. Mit guten Ideen für Sammlungspräsentation können sie bekannt gemacht werden. Ausstellungen mit geliehenen Arbeiten bleiben wichtiger Teil der Museumsarbeit, dürfen aber nicht das ganze Haus übernehmen.

Aber die behördliche Vorgabe, sich auf die Sammlung zu fokussieren, ist doch der Finanznot geschuldet.

Nein, mit dieser Idee bin ich selber angetreten. Und vernünftig mit der eigenen Sammlung zu arbeiten, ist ja auch nicht billig. Aber letztlich geht es nicht ums Geld, sondern um die Frage: Was soll ein Museum für eine Stadt bedeuten, was kann es einer Gesellschaft offerieren? Und ist für die jeweilige Frage die Sammlung, eine Ausstellung oder eine Kombination das richtige Medium? Es geht mir um Dialog.

Ist die Kunsthalle für Sie ein politischer Ort?

Sie ist ein kommunikativer Ort, wo sich die Gesellschaft über Kunst äußern kann. Und wo sie neue Welten entdeckt, indem sie mit den Augen anderer blickt.

Welcher „anderen“?

Es ist für jedes Kunstmuseum die große Herausforderung, wie es neben dem Bürgertum, das mit Neugier auf Kunst groß wurde, auch Bevölkerungsschichten mit geringem Einkommen und niedrigerem Bildungsniveau anziehen kann. Zweites Ziel: Menschen zu erreichen, die neu in Hamburg und im europäischen Kulturkreis sind.

Eine Museumspädagogin berichtete von der Weigerung muslimischer Viertklässler, Nackte auf Gemälden anzugucken; die Führung musste abgebrochen werden. Was tun?

Wenn man an den Punkt gekommen ist, ist es wahrscheinlich zu spät. Museumspädagogik ist kein Reparaturbetrieb, sondern etwas, das auf eine Gesellschaft um das Museum herum reagiert, mit ihr arbeitet. Ich habe in London die Erfahrung gemacht – und diese Politik verfolgt auch unsere Vermittlungsabteilung –, dass am besten langfristige Initiativen mit festen Ansprechpartnern funktionieren. Leider sind sie schwer zu finanzieren, weil viele Unterstützer und Stiftungen befristete Projekte vorziehen.

Aber welche Regeln gelten vor Ort? Sollte man die Aktdarstellungen für Muslime abdecken?

Natürlich nicht. Wir sind eine staatliche Einrichtung und folgen den Prinzipien und Idealen der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Aber an diese Prinzipien muss man langfristig heranführen und überlegen: Wie baut man Verständnis füreinander auf, statt sich Glaubenssätze um die Ohren zu hauen. Das darf aber nicht zu Kompromissen auf der Werte-Seite führen, sondern muss zu einer Einladung werden.

Es geht auch um Blickgewohnheiten. Wir Europäer erkennen, was auf einem expressionistischen Bild ist, jemand aus einem anderen Kulturkreis nicht. Wie wollen Sie das ändern?

Zunächst dadurch, dass man sich über diese Unterschiede austauscht, wie zum Beispiel bei unserem Projekt „Open Access“. Da haben wir Menschen eingeladen, die zwischen 1945 und 2016 aus inner- und außer­europäischen Ländern nach Hamburg kamen. Wir haben sie gebeten, ihre persönliche Auswahl aus Kunsthallen-Werken zu treffen, die wir im ab Mai zeigen werden.

Haben diese Treffen Ihren Blick auf die Sammlung verändert?

Ja. Besonders eindrucksvoll war der Austausch über eine Küstenszene bei Mondlicht, gemalt vom Romantiker Caspar David Friedrich. Ein syrischer Geflüchteter, der 2016 nach Hamburg kam, sagte: Genauso habe ich mich gefühlt, nach meiner Ankunft auf einer griechischen Insel. Ich begriff schlagartig: Dieses Ostsee-Bild kann eine völlig andere Lebensrealität darstellen.

Aber der Ostsee-Anrainer kann so einsam sein wie der Flüchtling. Entwurzelungsgefühle erfordern kein äußeres Drama.

Nein. Und genau deshalb kann die Ostsee zum Medium, zur Brücke für Verständigung werden.

Die Außenperspektive offenbart auch den ho hen Anteil christlicher Kunst in Europas Museen. Die versteht der Flüchtling so wenig wie der hiesige 18-Jährige.

Mit diesem bröckelnden oder ganz fehlenden Wissen kämpfen zurzeit alle Museen älterer Kunst. Und bei einem mittelalterlichen Altarbild voller Figuren und Symbole stellt sich die Frage: Geben wir seitenlang Informationen oder finden wir einen neuen Zugang?

Sollte man diese Informationen weglassen, weil sie unsere Realität nicht spiegeln?

Nein. Wir können nicht so tun, als ob es das alles nicht gegeben hätte. Wir müssen bloß überlegen, wie wir das auf relevante Art vermitteln. Oft erklären die Beschriftungen, was dargestellt ist und wer es malte. Das ist eine gute Grundlage, wenn man wissen will, warum 13 Männer um einen Tisch beim „Abendmahl“ sitzen. Danach muss man aber sagen, warum das Abendmahl damals wichtig war. Und dass darin eine menschliche Grundsituation durchgespielt wird.

Auch zeitgenössische Künstler beziehen sich oft auf biblische Geschichten. Soll man die jedes Mal neu erklären?

Moderne Kunst hat sogar noch eine zweite Ebene, denn sie bezieht sich oft selbst auf moderne Kunst. Wenn sich ein Werk auf Malewitschs Schwarzes Quadrat bezieht, muss man erstens Malewitsch kennen und zweitens wissen, dass er sich auf Ikonenmalerei bezieht. Man muss drei Ebenen erklären. Wir überlegen gerade, wie wir das geknackt kriegen. Im Idealfall hätte man den Multimedia-Guide für jedes Exponat. Das ist ein kostspieliges, langfristiges Ziel.

Außerdem muss man es Bildungsbürgern anders erklären als bildungsfernen Schichten.

Ja, aber da mache ich mir keine Sorgen: Wir haben in der Hamburger Kunsthalle Kunst vom Mittelalter bis heute. Es gibt Malerei, Fotografie, Video, Skulptur. Jeder kann bei dem andocken, was ihm liegt. An uns ist es, Angebote zu machen, die das erleichtern. Wenn die Neugier erst geweckt ist, kommen die Leute.

Aber wie bekommen Sie sie hier rein?

Schwierig. Für viele ist das hier ein großes Gebäude an einer sechsspurigen Straße, das ein teures Eintrittsgeld kostet. Einer unserer Versuche ist derzeit, eine langfristige Zusammenarbeit mit Schulen zu initiieren. Dafür müssen wir die Schulen und deren Klientel besser verstehen. Und die Schulen müssen wissen, was die Kunsthalle anbieten kann. Wenn wir es dann schaffen, die Schüler zu begeistern, bringen sie irgendwann ihre Eltern mit.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Im Grundschulalter würde das Interesse für Kunst schon geweckt werden - jedoch gibt es dafür in der Schule keine Zeit und kein Platz.

     

    Außerdem sind die Eintrittspreise der Museen und Kunsthallen viel zu hoch - wer von der "sozialen Unterschicht" kann sich das denn leisten!?

     

    Ist Beides so gewollt? Will das Bildungsbürgertum lieber unter sich bleiben?

  • 8G
    85198 (Profil gelöscht)

    Ich kann das Kredo des Interviews nicht teilen.

    Menschen heute haben einen größeren Zugang zu Kunst als jemals zuvor. Man darf nur den Kunstbegriff nicht zu sehr auf Bilder und Skulpturen aus der Vergangeheit beschränken.

    Das Urteil des Museumsdirektors schränkt Kunst ein auf das, was sich im physischen Museum ausstellen läßt. Derweil ist Kunst heute über das Internet viel einfacher zu erleben. Auch im unkommerziellen Bereich gibt es Kunst, die nie von den staatlich subventierten Hochkulturavantgardisten anerkannt wurde.

    Das gilt besonders für den Bereich der Musik. Maler, die ihre Leinwand zerstören, werden berühmt und kommen ins Museum. Musiker, die nicht nur ihre Instrumente zerkloppen, sondern den Ton, das Riff, die Melodie, die Stimme und das Wort destruieren, machen DIY-Platten in 500er Auflage und werden zu Legenden, die kaum jemand kennt oder kennen will. Da wendet sich das Kuratorenherz angewidert ab, wie sich die muslimischen Kinder von den Nackten abwenden.

    Zum Videos anschauen braucht mensch nicht ins Museum und zum Musikhören auch nicht. Selbst Mona-Lisa kann sich jede*r am heimischen Bildschirm ansehen und um ein schwarzes Viereck zu sehen, geht wohl jemand vor die Tür.

    Viele Museen haben darauf auch schon reagiert und zeigen Sachen auch digital, zumal nun mal nicht jede*r Museums-hopping nach London, Paris, Hamburg, Berlin oder New York machen kann. Ein solches demokratisiertes Angebot würde auch der Kunsthalle mehr Öffentlichkeit bescheren und damit auch vielleicht mehr direkte Besucher.

    Außerdem ist die Zentralisierung an einem Ort, dem Museum, ein Problem. Streetart, Video-, Skulpturkünstler und Musiker haben darauf längst reagiert . Das Verständnis dafür ist zur Zeit auch vergleichbar hoch, wie die Installation mit den aufgestellten Bussen in Dresden zeigt.