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Zeitzeuge über seine Kindheit im NS-Staat„Wichtig, das offenzulegen“

Als Kind hat er selbst den „Führer“ verehrt und war bei der Hitlerjugend. Nun hat Claus Günther ein Buch über sein Mitläufertum geschrieben.

Kam kurz vor Kriegsende in die Kinderlandverschickung: Claus Günther. Foto: Miguel Ferraz
Andrea Scharpen
Interview von Andrea Scharpen

taz: Herr Günther, haben Sie Hitler verehrt?

Claus Günther: Ja, eine Zeit lang natürlich. Ich kann mich an Hitlers 50. Geburtstag erinnern. Das war 1939, aber noch vor Kriegsbeginn. Ich bin am Abend vorher mit meinen Eltern durch Harburg gegangen und es war alles geschmückt – Schaufenster voller Girlanden, Hakenkreuzfahnen und Hitlerbilder. Da habe ich als Junge überlegt: „Mensch, Hitler ist schon 50. Was würden wir denn machen, wenn der nicht mehr da wäre?“ Das war für mich unvorstellbar.

Wie war die Hitlerjugend für Sie?

Wenn wir marschierten, habe ich schon ein Hochgefühl gehabt. Wir kamen mit der Mannschaft an und die Muttis mit ihren Einkaufstaschen mussten Platz machen, die Straßenbahn hat angehalten, die Fahne wurde gegrüßt. Das war aufregend.

Gab es auch etwas, das Sie gestört hat?

Im Interview: Claus Günther

85, ist in Hamburg-Harburg geboren und aufgewachsen, war dort in der Hitler-Jugend und von Mai 1944 bis August 1945 in der Kinderlandverschickung. Mit seinen Geschichten auf Hoch- und Plattdeutsch tritt der frühere Druckereifachmann und Werbetexter auch als Hamburgs ältester Poetry-Slamer in Kneipen auf. Seit über 20 Jahren spricht er für die Zeitzeugenbörse Hamburg an Schulen.

Über seine Erfahrungen hat Günther das Buch „Heile, heile Hitler“ (Marless 2016, 560 S., 19,80 Euro) geschrieben.

Man hat Disziplin und Kameradschaft gelernt, aber das hatte auch eine Kehrseite. Diese Kameradschaft war brüchig. Nachdem ein schmächtiger Junge mehrmals ohne Entschuldigung beim Dienst gefehlt hatte, wurde er vom Größten in der Riege vor unseren Augen zusammengeschlagen, bis er liegen blieb.

Keiner hat geholfen?

Nein. Alle haben geschluckt, aber geschwiegen. Ich habe mich selbst auch nicht getraut. Das ist es, was ich auch in Schulen sage: „Kollektive Angst erzeugt kollektives Schweigen.“

Wie haben Sie sich selbst gegenüber Juden verhalten?

Wir hatten jüdische Mitbürger auf der Nachbarschaft. Das war eine fünfköpfige Familie – eine Großmutter mit Anfang 70, die Eltern und zwei fast erwachsene Kinder. Die habe ich aber nie gesehen. Als mein Nachbar eines Tages nach Hause kam, hatte er mit der Aktentasche seinen Judenstern verdeckt. Das ging ja nun gar nicht, habe ich gedacht. Da habe ich all meinen „Mut“ zusammengenommen und habe einen Spottvers hinübergerufen, der mit den Worten „Itzig Itzig Judenschwein“ begann.

„Itzig“ war damals ein pauschales Schimpfwort für Juden.

Genau. Eigentlich war ich gut erzogen und wusste, dass Erwachsene Respektspersonen sind. Doch dem gegenüber durfte ich mir ja was erlauben, hab ich gedacht. Und dann hatte ich eine Hand im Nacken vom Sohn unseres Hauswirts. Der war vielleicht vier Jahre älter als ich, also 14 Jahre alt, und raunte mir ins Ohr: „Das musst du nicht tun. Das sind doch auch Menschen.“ Ich habe mich furchtbar geschämt und tue es noch heute.

Haben Sie mitbekommen, dass Menschen in Ihrer Umgebung verschwunden sind?

Ja. Bei der jüdischen Familie in meiner Nachbarschaft waren die Holzläden vor den Fenstern auch tagsüber geschlossen. Sie öffneten nur die Tür einen Spalt, wenn der Rabbi in seinem langen Gewand zu ihnen kam, um ihnen Trost zu spenden. Irgendwann kam ich mittags von der Schule nach Hause und da waren die Fenster offen und es waren Maler zugange, die gepfiffen und gesungen haben. Ich habe meine Mutter gefragt, wo unsere Nachbarn abgeblieben sind und die Antwort bekommen, dass sie wohl im Arbeitslager sind.

Wussten Sie oder Ihre Mutter damals, dass die Menschen in den Konzentrationslagern ermordet wurden?

Nein. Ein Konzentrationslager wurde uns so verkauft, dass da Menschen, die gegen uns sind, konzentriert werden und arbeiten müssen. Allerdings ist mein Vater in den 40er-Jahren ins besetzte Polen versetzt worden. Das war in Chrzanów, wenige Kilometer von Auschwitz entfernt. Und ich weiß noch, als Vater mal zu Hause war und ich ins Zimmer reinkam, waren beide Eltern wie erstarrt und haben das Gespräch sofort abgebrochen. Der muss was gehört haben.

Ihr Vater war Nationalsozialist?

Ja. Mein Vater war SA-Mitglied und ist in Harburg 1938 mit zur Synagoge marschiert. Bei uns passierte das mit einem Tag Verzögerung am 10. November. Er wurde von seinen SA-Kameraden zum Sondereinsatz abgeholt. Ich konnte nicht schlafen und saß zum Ausgucken am Fenster. Der Fackelzug spiegelte sich in den Scheiben. Und der Trupp marschierte, aber die haben nicht gesungen. Alle paar Schritte trommelte jemand. Das wirkte sehr bedrohlich. Mein Vater ging mit der Fahne vorneweg.

Hat er die Synagoge geschändet?

Ich habe es nie rausgekriegt. Wahrscheinlich nicht, aber er hat bei den Absperrungen geholfen. Seine SA-Kollegen in Zivil wollten die Synagoge anzünden, aber dann ist jemandem aufgefallen, dass nebenan eine Tankstelle war. Da haben sie das ganze Inventar zerstört.

Warum glauben Sie trotzdem nicht, dass Ihr Vater Juden gehasst hat?

Was ich meinem Vater zugute halte, ist dass er in Polen beim Landratsamt in der Passabteilung vielen Juden zur Ausreise verholfen hat. Ich habe eine Bescheinigung von nach dem Kriege, in dem ihm das bestätigt wird. Als er dort in Chrzanów lebte, wurde er schwer krank. Die Menschen, denen er die Pässe ausgestellt hatte, verwöhnten ihn mit Lebensmitteln und Delikatessen, um ihn wieder auf die Beine zu kriegen.

Oder hat er sich die Hilfe bezahlen lassen?

Ich denke, er war naiv. Das ganze wurde von seinen Vorgesetzten gefördert. Die waren polen- und judenfreundlich.

Haben sich Ihre Eltern sehr angepasst?

Ja, es ging immer darum, bloß nicht anzuecken. Wir hatten eine Schallplatte von dem jüdischen Sänger Joseph Schmidt. Ein wunderbarer Tenor. Irgendwann hieß es aber, „das darf man ja eigentlich gar nicht mehr spielen“. Und mein Vater hat die Schallplatte entsorgt.

Wie haben Sie in Ihrem Umfeld die Stimmung wahrgenommen, nachdem Deutschland Polen überfallen hatte?

Niemand ist auf die Straße gegangen und hat gejubelt. Ich selbst habe Angst bekommen, nachdem ich die Ansprache des Führers im Radio gehört habe: „Von jetzt an wird Bombe mit Bombe vergolten“, hat er gesagt.

Wann haben Sie zum ersten Mal in einem Luftschutzkeller gesessen?

Das muss 1940 gewesen sein. Zu Anfang war das noch ein großes Abenteuer für mich. Jeder Haushalt kriegte Gasmasken und die habe ich ausprobiert. Und als in Harburg das erste Haus von einer Bombe getroffen wurde, da ging dann Sonntags eine halbe Völkerwanderung hin. Dem Haus fehlte die ganze Vorderwand wie bei einer überdimensionierten Puppenstube. Und irgendwann in der Schule fehlte Uwe. Der war bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.

Also mussten Sie sich plötzlich mit dem Tod auseinander setzen?

Ja, aber als Kind konnte ich mich gut davon abgrenzen, vielleicht auch, weil mir das Vorstellungsvermögen fehlte. Ein Privileg der Kinder, für den Moment zu erschrecken und dann weiterzuleben.

Erinnern Sie sich an den 25. Oktober 1944, den Tag, an dem Harburger Wohngebiete getroffen wurden und mehr als 700 Menschen starben?

Zu dieser Zeit war ich schon in der Kinderlandverschickung. Die halbe Klasse hat damals ein Telegramm bekommen: „Ausgebombt, aber uns geht es gut.“ Später habe ich erfahren, dass meine Mutter noch in unser brennendes Haus reingerannt ist. Aber sie konnte außer dem obligatorischen Handköfferchen mit den Papieren so gut wie nichts retten.

Warum hat Ihre Mutter Sie in die Kinderlandverschickung gegeben?

Das war gar nicht anders möglich. Unsere ganze Schule ist evakuiert worden, mitsamt der Lehrer. Wir waren die Jugend von morgen, die Deutschland nach dem Krieg wieder aufbauen sollte.

Wo waren Sie?

Zunächst in mehreren Orten im besetzten Tschechien. Dann kamen die Russen. Wir hörten in der Ferne den Kanonendonner und sind nach Bayern, ins Kloster Windberg, geflüchtet.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie da die Schuhe eines Ermordeten getragen haben.

Ich bin schon in Harburg mit schlechtem Schuhwerk los und irgendwann waren die ganz kaputt. Dann sagte mir einer der Lehrer, wo ich hingehen könnte, um mir neue zu holen. Geld oder einen Bezugsschein bräuchte ich nicht. Der Raum war übersät mit Schuhen und Stiefeln aller Größen. Und da habe ich mir ein Paar ausgesucht und gedacht: „Wenn unsere Feinde noch so gute Schuhe haben, warum haben die die denn nicht gegen Butter getauscht?“ Erst Jahre später ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen, dass das Schuhe von Kindern gewesen sein müssen, die ermordet wurden.

Wie sind Sie damit zurechtgekommen?

Schlecht. Ich schulde dem Jungen Dank, doch ich habe ein schlechtes Gewissen.

Wann haben Sie damit angefangen, diese ganzen Vorurteile gegenüber Juden, Sinti und Roma und Fremden zu hinterfragen?

Es gab einen Film, der für mich sehr prägend war. Der heißt „Die Todesmühlen“ und ist ungefähr 20 Minuten lang. Der ist von den Amis und von den Engländern nach der Befreiung von KZ-Lagern gemacht worden, Regie: Billy Wilder.

Ist das ein Dokumentarfilm?

Ja, mit Aufnahmen von den Leichenbergen, von den Skeletten der Überlebenden, schwer zu ertragen. Mein Vater und ich gingen eines Tages gemeinsam durch Harburg. Plötzlich versperrten uns Männer in KZ-Kleidung den Weg und sagten: „Hier, geh’n Sie mal rein ins Kino, kostet nichts.“ Ich habe mit meinem Vater nicht über die Bilder sprechen können, und er auch nicht mit mir. Ich habe mich danach jahrzehntelang geschämt, Deutscher zu sein.

Im Moment sieht man Bilder, von angezündeten Flüchtlingsheimen, die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten steigt. Sehen Sie Parallelen zu der Zeit, in der Sie aufgewachsen sind?

Absolut. Ich hab mir ja auch nie vorstellen können nach dem Krieg, dass es einmal so etwas wie Neonazis geben könnte. Und als ich die ersten Bundeswehrsoldaten gesehen habe, ich hätte die ohrfeigen können.

Warum haben Sie Ihre Geschichte aufgeschrieben?

Es hat Millionen Mitläufer gegeben, doch es gibt kaum jemanden, der sagt, meine Eltern waren Nazis. Es ist mir wichtig, das offen zu legen, dieses ganze Duckmäusertum.

Wie gehen Schüler mit Ihren Erzählungen um?

In einem einzigen Fall habe ich an einem Gymnasium erlebt, dass die Abiturienten an ihren Tischen saßen und kein Wort gesagt haben. Aber eigentlich läuft es anders. Allerdings haben das Interesse an der NS-Zeit und die Anfragen für Gespräche mit uns in den letzten Jahren nachgelassen. Das ist fatal. Ich möchte die junge Generation vor Einflüsterungen vonseiten der Populisten warnen.

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4 Kommentare

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  • Itzig ist kein Schimpfwort, sondern ein Vorname. Die aschkenasische Variante zu Yitzhak/Jitzchak, deutsch: Isaak. Das Schimpfwort bei den drei Worten ist "Judenschwein".

     

    Ansonsten schließe ich mich den anderen Kommentatoren an. Herr Günther hat auch meine vollen Respekt.

  • Alle Achtung und höchsten Respekt, Herr Günther, Sie setzen sich geradezu beispielhaft mit Ihrer Familiengeschichte und mit Ihren eigenen Erlebnissen auseinander; und das nicht nur "im stillen Kämmerlein", sondern öffentlich.

  • Respekt! Ich wünsche Herrn Günthre, dass er noch viele Jahre Zeugnis ablegen kann. Und uns Anderen wünsche ich, dass das Interesse an seinen Schilderungen (wieder) wächst. Die Chance, jemandem zuzuhören, der selbst noch dabei gewesen ist und vergleichen kann, und seine Erzählungen zu hinterfragen, wird immer geringer. Die Schulen müssten sich also e igentlichregel reißen um das Vorrecht, den Mann einzuladen. Sie tun es nicht. Das ist kein gutes Zeichen, fürchte ich. Womöglich wird einfach schon wieder viel zu viel "geschluckt", "geschwiegen" und sich "nicht getraut". Erklärlich wäre es. Die Autorität ist schließlich längst wieder zurück.

  • Respekt für Herrn Günther für so viel Courage und Ehrlichkeit. Hat auch Bezüge zur 'Banalität des Bösen' von Hannah Arendt.