EU-Report zur Arbeitsplatzabwanderung: Slowdown der Globalisierung
Europas Populisten wollen Arbeitslosigkeit durch Abschottung bekämpfen. Dabei hat der Aderlass in Richtung Billiglohnländer abgenommen.
Der jüngste Offshoring Report der EU legt jedoch nahe, dass die Flucht der westeuropäischen Industrie gen Osten längst nicht mehr so rasant verläuft, wie oft behauptet. Der European Restructing Monitor (ERM) ermittelt seit 2003 die offiziellen Zahlen und Motive von Großunternehmen, die in den EU-Ländern spürbaren Stellenabbau betreiben. Sein Befund: Offshoring, also die meist lohnkostenmotivierte Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, ist am wenigsten für Jobverluste in westlichen EU-Staaten verantwortlich.
Am stärksten betroffen seien immer noch die Automobil- und die Elektronikbranche. Arbeitskosten von fünf statt 50 Euro die Stunde lockten seit der Öffnung der Arbeitsmärkte zahllose Hersteller nach Fernost und Osteuropa. Große Produktionsverlagerungen wie von Volkswagen oder Nokia zogen dabei immer wieder Aufmerksamkeit auf sich. Tatsächlich aber ging seit 2010 nur einer von zehn Jobs in den EU-Staaten durch Offshoring verloren.
Besonders in den EU-Staaten Westeuropas habe sich der Aderlass ans Ausland seit der Finanzkrise halbiert – in der Autoindustrie zum Beispiel von insgesamt 27.700 gemeldeten Jobverlagerungen zwischen 2003 und 2009 auf seitdem 10.525. Viel häufiger mussten Industriearbeiter interne Einsparungen, Rationalisierungen und expansionsbedingte Restrukturierungen erleiden – auf ihr Konto gehen drei Viertel des Stellenabbaus in EU-Ländern.
Der ERM erfasst zwar nur einen Teil aller Abwanderungen: es müssen mindestens zehn Prozent der Stellen eines Großunternehmens ausgelagert und dabei nicht in mehrere Richtungen umverteilt werden. Der Trend der Zahlen verleitet die Autoren der Studie nichtsdestotrotz zu der These eines „globalisation slowdown“, einer Verlangsamung der Globalisierung.
China, dem Le Pen vergangenes Jahr im Europäischen Parlament vorwarf, die französische und europäische Industrie „verwüstet“ zu haben, hat seit 2010 tatsächlich nur 8,7 Prozent der aus Westeuropa abgezogenen Jobs abbekommen. Die Löhne in dem Schwellenland haben sich laut Institut für Weltwirtschaft (IfW) seit 2008 verdoppelt, im Nachbarstaat Vietnam sogar verdreifacht. Hinzu kamen in China eine exportbehindernde Aufwertung des Renminbi und einige konfliktreiche Arbeitsgesetze.
Der weite Transport schlägt da immer unprofitabler zu Buche und „Nearshoring“ erlebt eine neue Blüte. „Mittel- und Osteuropa liegen uns nicht nur geografisch näher“, meint Thomas Hutzschenreuter, Professor für Internationales Management an der TU München. Die Institutionen in Ländern wie Tschechien, Polen oder der Slowakei seien uns vertrauter und man könne von dort aus viel schneller auf Aufträge reagieren, als bei fernöstlichen Distanzen. Fehlende Flexibilität ist laut ERM-Report der am häufigsten genannte Grund deutscher Unternehmen, ihre Abenteuer in Asien wieder abzubrechen.
Der zweithäufigste Grund ist die Qualität. „In der Hochphase des Offshoring hat es teilweise eine Goldgräberstimmung gegeben“, so Hutzschenreuter. Viele mittelständische Unternehmen hätten sich von den Billiglöhnen verführen lassen und am Ende mangelhafte Ware erhalten. Das gilt aber nicht nur für China: Der deutsche Tresorbauer Format zum Beispiel holte seine Produktion 2005 wegen des gesunkenen Standards wieder aus Polen zurück – und weil in Mitteleuropa immer wieder harte Streiks ausgefochten werden. Die Anziehungskraft Osteuropas für westeuropäisches Offshoring ist seit der Finanzkrise von 54 auf 35 Prozent gefallen, so der Report.
Keine neue Beobachtung
Der Trend zum „Reshoring“ wird nicht zum ersten Mal beobachtet. Seit Jahren verkündet der Verein Deutscher Ingenieure, die „Milchmädchenrechnung“ der Billigproduktion im Osten sei nun aufgeflogen. „Made in Germany schlägt Low Cost“, deklamierte 2012 der damalige Vereinspräsident Bruno Braun. Der ERM-Report bestätigt, dass seinerzeit auf zwei Auslandsverlagerungen deutscher Hersteller elektronischen Werkzeugs eine Rückverlagerung erfolgte. Frankreich ging so weit und gründete 2008 einen Strategischen Investmentfond, der Rückkehrern mit Krediten beisteht.
Holger Görg, Forscher des IfW zur internationalen Arbeitsteilung, warnt jedoch davor zu glauben, die Globalisierung hätte ihren Höhenflug hinter sich gelassen. Nur weil weniger Arbeitsplätze in Niedriglohnländer abzögen, hieße das nicht, dass uns weniger von dort zugeliefert würde – im Gegenteil. „Die Autoindustrie hat ihre Auslandsverlagerungen in weiten Teilen bereits vollzogen und versucht nun, die Zulieferungsanteile zu optimieren“, so Görg. Ein deutsches Exportauto werde bereits zu einem Drittel im Ausland angefertigt – im Jahr 2000 war es bloß ein Fünftel.
Von dem Ausbau günstiger Zuliefererfabriken in Mittel- und Osteuropa seien deutsche Fachkräfte jedoch wenig betroffen, wenn sie sich auf ihr Kerngeschäft spezialisierten, erklärt der IfW-Forscher. „Deutschland steht am Ende einer High-Value-Produktionskette. Eine Teilverlagerung der Fließbandarbeit in ärmere Länder ist sinnvoll und kann dort Entwicklungen anstoßen“, sagt Görg. Statt Abschottung zu betreiben müsse hier parallel, wie in China, Weiterbildung betrieben und politisch gefördert werden.
Ein Anstieg von Qualifikation und Qualität in einem Schwellenland ist derweil kein Garant, dass es auch seinen Status als Billigstandort verliert. Indiens IT-Fachkräfte zum Beispiel hinken dem deutschen Know-How heute kaum hinterher, wohl aber dem Lohnniveau. 2008 gingen bereits zwei Drittel der von Deutschland outgesourcten IT-Aufträge an Indiens viel kostengünstigeren Arbeitsmarkt – ohne Transportkosten, ohne Zölle. Nach Einschätzung Görgs sind in der IT-Industrie noch enorme Offshoringwellen zu erwarten. Die „wilde“ Globalisierung – sie wird vermutlich so schnell vom Programm nicht verschwinden.
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