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Kommentar Doppelanschlag in IstanbulDie Schwäche des starken Mannes

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

38 Tote und 150 Verletzte sind für die Türkei ein Schock. Für Erdoğan sind die Anschläge hingegen Teil seines politischen Kalküls.

Erdoğan bleibt, solange Krieg, Angst und Trauer bleiben Foto: dpa

D ie Spirale der Gewalt hat Samstagnacht in Istanbul erneut eine schlimme Umdrehung gemacht. 38 Tote und 150 Verletzte mitten in Istanbul sind auch für die mittlerweile an Gewalt und Terror gewöhnte Türkei ein Schock. Der Doppelanschlag von Istanbul ist der erste große Terrorakt nach dem Putschversuch vom 15. Juli. Trotz Ausnahmezustand, trotz Tausender von Verhaftungen in den letzten Monaten, schafft die türkische Regierung, schafft es Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht, Terroranschläge zu verhindern.

Dennoch inszeniert er sich unentwegt als starker Mann, der allein dazu in der Lage sei, den Terror zu besiegen. Auch dieses Mal tönte er im gewohnt aggressiven Sound von Vergeltung und „die werden dafür einen hohen Preis bezahlen“.

Am Sonntag haben sich die kurdischen Freiheitsfalken TAK, eine Unterorganisation der PKK, zu dem Doppelanschlag bekannt. Als Grund nannte sie die Gewalt des Staates in den kurdischen Gebieten. Tatsächlich hat Erdoğan die Repressionen dort erheblich verschärft. Verhaftungen wegen des Vorwurfs der Unterstützung der PKK sind an der Tagesordnung, und reihenweise werden gewählte kurdische Bürgermeister abgesetzt.

Neben der PKK verüben aber auch andere Organisationen, vor allem die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), immer wieder grausame Anschläge in der Türkei. Erst am Samstag hatte das türkische Militär den erfolgreichen Angriff auf die syrische IS-Hochburg al-Bab, 30 Kilometer nördlich von Aleppo, gemeldet. Der IS drohte schon vor Tagen, den Vormarsch mit Anschlägen zu beantworten.

Beide Kriege, sowohl gegen den IS als auch gegen die Kurden, haben ihren Preis. Erdoğan weiß das und hat Anschläge wie die jetzt in Istanbul längst in sein politisches Kalkül einbezogen.

Ebenfalls am Samstag hat seine AK-Partei im Parlament den Entwurf für eine Verfassungsänderung eingebracht, durch die Erdoğan zum uneingeschränkt herrschenden Präsidenten werden würde, dem starken Mann schlechthin. Diese Verfassungsänderung wird ihre finale Weihe durch eine Volksabstimmung im Frühjahr erhalten. Solange das Land Krieg führt, solange die Menschen nach Vergeltung rufen, kann sich Erdoğan sicher sein, dass die Mehrheit für ihn stimmen wird. Frieden wird in der Türkei deshalb immer unwahrscheinlicher.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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2 Kommentare

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  • „die werden dafür einen hohen Preis bezahlen“.

     

    "Die" - das sind dann kurdische Zivilisten.

  • Die Kurden brauchen einen eigenen Staat - Erdogan sollte, anstatt die Kurden zu bekriegen und als Feinde sieht, vielleicht mal darüber nachdenken wie er einen Scherbenhaufen Türkei noch verhindern kann.

    Wirtschaftlich geht es Berg ab - EU Mitgliedschaft ist auch ausser Reichweite - Putin wird sich mit Trump arrangieren und die Türkei wird weiter isoliert.

    Was soll dann Folgen - die totale Diktatur?