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Debatte Zukunft der UkraineDer unendliche Maidan

Kommentar von Alexander Kratochvil

Der Maidan ist ein Synonym für Aufbruch und Europa. Er steht aber auch für das Scheitern gesellschaftlicher Bewegungen.

Generationswechsel: Eine europäische Perspektive würde den jungen Reformern helfen Foto: dpa

W er kommt mit auf den Maidan? Wenn wir mehr als tausend sind, organisieren wir uns!“ So lautete der Facebook-Post von Mustafa Najem vor drei Jahren. Und es kamen weit mehr als tausend Menschen, um gegen den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu demonstrieren. Der hatte nach einem kurzfristig anberaumten Moskau-Besuch Mitte November 2013 ankündigt, dass er das unterschriftsreife Assoziierungsabkommen mit der EU doch nicht unterzeichne. Damit begann der vierte Maidan in Kiew.

Das Wort Maidan bezeichnet einen offenen urbanen Raum, der in der Ukraine zum wiederholten Mal zum Synonym für gewaltfreien Widerstand wurde. Der erste Maidan fand 1990 als „Studentenrevolution auf Granit“ in Kiew statt. Der zweite Maidan folgte im Jahr 2000/2001 unter dem Motto „Ukraine ohne Kutschma“ (der damalige ukrainische Präsident wurde unter anderen verdächtigt, die Ermordung eines regierungskritischen Journalisten angeordnet zu haben).

Dieser Maidan wurde von der Stadtverwaltung gewaltsam aufgelöst unter dem Vorwand, den Platz umzugestalten. Das Ergebnis ist ein architektonischer Erinnerungskitsch mit einem martialischen Erzengel Michael und Granitplatten, die wie das Muster einer traditionellen ukrainischen Stickerei gepflastert sind.

Kampf für eine andere Ukraine

2004 wurde der Maidan mit der Orange Revolution als Zentrum des Protests gegen den Wahlbetrug Wiktor Janukowitschs weithin bekannt. Die Orange Revolution zeitigte wie die vorangegangenen Maidan-Proteste jedoch kaum nachhaltige Veränderungen. Der Maidan ist somit eine ambivalente Chiffre des Kampfs für eine andere Ukraine. Das wird an der Personalie Wiktor Janukowitsch deutlich: Nachdem er seinen Wahlbetrug eingestanden hatte, wurde Wiktor Juschtschenko Präsident. Allerdings wurde Janukowitsch dann nicht einmal ein Jahr darauf von Juschtschenko zum Regierungschef gemacht.

Jeden Ukrainer, der sich daraufhin resigniert von der Politik abwendete, kann man nur zu gut verstehen. Und so hat auch keiner der mittleren und älteren Generation, die die Orange Revolution getragen hatte, damit gerechnet, dass so bald ein weiterer Maidan, für den sich die Bezeichnung „Euro-Maidan“ einbürgerte, möglich wäre.

Alexander Kratochvil

ist Slawist und Literaturübersetzer, derzeit als JEP Fellow an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag in einem Projekt zu literarischen Narrativen der Erinnerung und des Traumas sowie in einem internationalen Projekt zur Neukonzeption der ukrainischen Literaturgeschichte.

Es waren erneut Janukowitsch und seine Politik, die besonders Studenten und die jüngere Generation auf die Straßen brachte. Nach den ersten Gewaltaktionen gegen die Demonstranten schloss sich die mittlere und ältere Generation den Maidan-Protesten an. Am Ende waren mehr als hundert Menschen getötet und die Ukraine zu einem anderen Land geworden – oder hätte es zumindest werden können.

Nach der Flucht von Janukowitsch schienen die Menschen wie im Märchen durch die Villen ihres räuberischen Präsidenten und seiner Kumpane zu wandeln. Es sah für einen Moment so aus, dass das europäische Luftschloss in der Ukraine Realität werden könne. Doch dann tauchten jene grünen Männer auf der Krim und in den südöstlichen Gebieten auf, und die Bilder erinnerten an eine Antiutopie, die sich mit der Okkupation der Krim und dem sogenannten hybriden Krieg von Russland in die heutige europäische Realität verwandelte.

Wie soll es mit der Ukraine weitergehen? Die Führungselite ist nach wie vor korrupt, die Abkommen von Minsk I und II funktionieren nicht, und die internationale Politik richtet ihr Augenmerk auf andere Regionen. Und wie wird sich der neue amerikanische Präsident positionieren? Eine Frage, die nicht nur die Ukraine, sondern ganz Europa beschäftigt. Hinzu kommt die Sorge um den Rückfall in nationale Denkschemata, die sich mit sogenannter postfaktischer und populistischer Rhetorik vereinen. Die europäische Vision der Ukraine droht zu einem Auslaufmodell zu werden, da Europa selbst zum Auslaufmodell werden könnte.

Und doch inspiriert und mobilisiert dieses „Europa“ noch immer den Großteil der Ukraine, und so gibt es durchaus positive Anzeichen wie die Reform des Justizwesens, erste Erfolge in der Korruptionsbekämpfung und die Offenlegung der Vermögen.

Die Vision Europa inspiriert und mobilisiert noch immer den Großteil der Ukraine

Es löste zwar einen Schock bei vielen Ukrainern aus, als sie erfuhren, welche Reichtümer in Form von Bargeld, Autos und Immobilien hohe Beamte aus Steuer- und Zollbehörden, Militär, Polizei sowie Parlamentsabgeordnete und Ministerialbeamte angehäuft hatten, doch ist dieser Schock ein Indiz für zunehmende Transparenz, zu der auch gehört, dass die Immunität von Oligarchen aufgehoben werden soll.

Unort der Erinnerungen

Der Schlüssel für die Zukunft der Ukraine bleibt jedoch der Friedensprozess oder besser gesagt der Krieg. Hier gibt es gegenwärtig keine Alternative, als auf der Grundlage der Verträge von Minsk weiterzuverhandeln. Zugleich aber muss der Ukraine eine wirkliche europäische Perspektive in Aussicht gestellt werden, nicht nur halbherzige Visaerleichterungen, sondern ernsthafte Vorbereitungen von Beitrittsverhandlungen zur EU.

Das würde die Kompromissbereitschaft der ukrainischen Seite in den Friedensverhandlungen und Reformen im Land fördern. Zudem würde eine klare europäische Perspektive die Position der jüngeren Politiker wie Mustafa Najem und die aus dem Maidan hervorgegangenen zivilgesellschaftlichen Gruppen stärken, die zum Marsch durch die Institutionen aufgebrochen sind, um das Land mit einem institutionell getragenen Generationswechsel zu verändern.

Eine Generation dauert es, bis für traumatische Ereignisse wie Revolution, Krieg, Katastrophen und deren Opfer eine angemessene Sprache und Erinnerung gefunden werden. Der heutige Maidan ist ein Unort der Erinnerung mit einer traumatischen Kitschproduktion. Die hat sicher eine Schutzfunktion und überdeckt die albtraumhafte Erfahrung von Gewalt und Tod sowie die bohrende Frage, ob der Euro-Maidan nicht wie die Orange Revolution gescheitert sei. Es gibt allerdings zivilgesellschaftliche Initiativen und Architekturprojekte wie Terra Dignitas, die den Maidan als Ort interpretieren, an dem die Ukraine wirklich unabhängig wurde und die postsowjetische Zeit in die Erinnerung verabschiedet wird.

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2 Kommentare

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  • 8G
    81236 (Profil gelöscht)

    Ich wünsche der Ukraine auch, dass sie vollständig in die europäische Gemeinschaft aufgenommen wird und dank ner Menge Kredite endlich beginnt zu florieren und zu blühen. Schon in ein paar Jahren dann, wird die Ukraine die dominierende Macht in Europa werden und dem deutschen Armenhaus in die Scheckbücher diktieren können, wo es in Sachen Weltpolitik lang geht. Nach weiteren Jahren wird sie schließlich weltpolitisch unabhängig von den USA agieren können. Endlich dann ist die Ukraine ganz zu sich selbst gekommen und kann imperialistische Kriege nach herzenlust und bedarf führen, so wie sie es sich nicht in ihren wildesten Träumen auszumalen vermochte.

  • Reden die denn nicht, die Ukrainer? Nicht mal daheim am Küchentisch?

     

    Alexander Kratochvil behauptet, "keiner der mittleren und älteren Generation, die die Orange Revolution getragen hatte, [hätte] damit gerechnet, dass so bald ein weiterer Maidan [...] möglich wäre". Kratochvil sei Dank, kann ich mir das nur selbst erklären. Der Texter liefert seine "Auflösung des Rätsels" ja nicht mit – bzw. nur versteckt.

     

    1990 – 2000 – 2004 – 2013. Es gibt ganz offensichtlich ein sehr kritisches Potential in der Ukraine. Eins, das jeden Anlass für eine Revolte nutzt. Ein solche Potential ist nie zu unterschätzen. "Es waren", schreibt Kratochvil, "erneut Janukowitsch und seine Politik, die besonders Studenten und die jüngere Generation auf die Straßen brachte". Das ist zwar nur die halbe Wahrheit, nötigt mir aber trotzdem eine Frage ab: Welche "Politik" war es genau?

     

    Kratochvil erklärt: "Janukowitsch hatte nach einem kurzfristig anberaumten Moskau-Besuch Mitte November 2013 ankündigt, dass er das unterschriftsreife Assoziierungsabkommen mit der EU doch nicht unterzeichne". Damit war das Ventil geschlossen, der Topf ist explodiert. Denen, die die Ukraine aufgegeben hatten nach 2004, war ihre Flucht-Aussicht verbaut – und ihre Russland-Abhängigkeit demonstriert.

     

    Gerade junge, gut ausgebildete Ukrainer hatten nach 2004 ihre Zukunft eher im goldenen Westen gesehen als daheim. Das hat bis heute niemand als Problem erkannt. Janukowitsch nicht, Putin nicht und auch der Westen nicht. Man hat die Sprengkraft einfach unterschätzt.

     

    Mustafa Najem hat mit seinem Facebook-Post nicht nur enttäuschte Studenten auf den Plan gerufen, sondern auch beinharte Nationalisten – die ihrerseits Nationalisten aufgerufen haben. Am Ende stand der Bürgerkrieg. Im Grunde war der absehbar. Nur nicht für die, die fremde Revolten feiern wollen. Weil sie selbst sich ganz zu recht nicht trauen.

     

    Ich wünschte wirklich, die EU-Fans würden endlich aufhören zu träumen!