Kunstmuseum Wolfsburg goes Pop: Sehnsucht, Gummi und Erdbeerduft
„This Was Tomorrow“ im Kunstmuseum Wolfsburg ist die große Übersichtsschau zur British Pop Art zwischen 1947 und 1968.
Eine der betörendsten Arbeiten in „This Was Tomorrow“ ist zweifellos Jann Haworth’ Surfer. Die Künstlerin fertigte ihn aus Seidenstrümpfen. Neben einer Wuschelmähne und sonnengebräunter Haut modellierte sie ihrer „Soft Sculpture“ auch einen wunderbaren Sixpack.
Wie kommt eine Künstlerin aus Großbritannien darauf, sich in den sechziger Jahren mit dem Motiv des Surfers zu beschäftigen? Ein Motiv, das selbst in den USA, wie es scheint, doch erst durch Raymond Pettibon in den neunziger Jahren in den Kunstdiskurs Eingang fand, obwohl der Surfer dort, zumindest in Kalifornien, eine geläufige Erscheinung ist.
Die sich entwickelnde Konsum- und Freizeitkultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das lässt sich nach dem Rundgang durch die große Übersichtsschau zur britischen Pop-Art im Kunstmuseum Wolfsburg konstatieren, erfuhr in England und Frankreich früher Aufmerksamkeit aus der Kunst- beziehungsweise in Frankreich aus der Filmszene als in den Vereinigten Staaten selbst, dem Ursprungsland der Entwicklung.
Deshalb überblickt nun aus geschätzten zwölf Metern Höhe der Star der Nouvelle Vague schlechthin, überblickt also Anna Karina die „City of the Sixties“ wie Ralf Beil, Direktor des Kunstmuseums, und seine Kuratorin Uta Ruhkamp den Ausstellungsparcours in der großen Museumshalle nennen. Gemalt hat sie 1963 Gerald Laing in der Art des Rasterdrucks, wie man ihn aus Zeitungen kennt, im Billboardformat von knapp vier Metern Höhe.
Neodadaistische Collage
Wie früh US-Werbung, Massenmedien und Hollywood in England und Frankreich kulturell durchschlugen, zeigt die neodadaistische Collage „I was a Rich Man’s Plaything“, die der damals 23-jährige Künstler Eduardo Paolozzi 1947 in seinem Pariser Atelier klebte. Unter der Schrift „Intimate Confessions“ ist ein gerade abgeschossener Revolver zu sehen, in dessen Rauchwolke „Pop!“ zu lesen ist. Neben der „Daughter of Sin“ ist naturgemäß Coca-Cola in dieser Urszene der Pop-Art anwesend, ein Flying Fortress und rot leuchtende Kirschen.
Die rasche Abfolge solcher Collagen, mit denen der schottische Künstler unter dem Titel „Bunk!“ seinen Einführungsvortrag bei der ersten Sitzung der Independent Group am 12. Februar 1952 in London auf dem Episkop begleitete und die modernen Küchen, Konservendosen, Flugzeuge, Pin-up-Girls und Disney-Figuren zeigen, erwies sich zwar zunächst als totaler Flop.
Trotzdem findet sich in den Diskussionen über die Konsumgesellschaft, über Urbanität, Mobilität und die Stadt von morgen der Independent Group mit dem Architekturkritiker Reyner Banham, dem Kunstkritiker Lawrence Alloway, den Künstlern Richard Hamilton und Eduardo Paolozzi, dem Fotografen Nigel Henderson und den Architekten Peter und Alison Smithson die Keimzelle des British Pop.
1956 stellten die Smithsons einen Prototyp ihres für die Massenproduktion vorgesehenen House of the Future vor, in dem der soziale Wohnungsbau richtig schick aussah, mit Designerküche und Egg Chair. Endlich nach dem Krieg ist das Land hochgestimmt. Deshalb scheint es nur folgerichtig, dass das ikonische Bild der Pop-Art jetzt entsteht: „Just what is it that makes today's homes so different, so appealing?“, eine kleine Collage von Richard Hamilton in der Ausstellung „This Is Tomorrow“.
Die Totale Installation
Dort stürzt sich Hamilton mit seinem Fun House wirklich kopfüber in die Zukunft: Bei der Rauminstallation, die er mit Hilfe der Architekten John Voelcker und John McHale in der Londoner Whitechapel Art Gallery aufbaut, arbeitet er mit Mikrofon und Verstärker, die er den Besuchern zur Verfügung stellt.
Damals wie heute – die von Hamilton 1987 selbst besorgte Rekonstruktion wurde extra aus Valencia nach Wolfsburg geholt − riecht man Erdbeerduft, schreitet über weichen Gummiboden, wird durch bewegliche Rotoreliefs irritiert, sieht einen Kriegsfilm und kann in der Jukebox die aktuellen Hits finden, um nur einige Elemente dieses totalen Environments zu nennen.
Hamilton ist es auch, der rund zehn Jahre später den Abgesang ikonografisch definiert, mit „Swingeing London 67“ (1968), dem Bild, das Mick Jagger und den Galeristen Robert Fraser in Handschellen zeigt. Die Synergien von Musik, Kunst und Mode sind auf dem Höhepunkt: „Popidol Mick Jagger von den Rolling Stones erschien heute vor Gericht in einem lindgrünen Jackett, dunkelgrüner Hose, einer grünschwarzen Krawatte und einem geblümten Hemd, um sich wegen Drogenbesitzes zu verantworten“, ist auf einen Zeitungsausschnitt in Hamiltons Druckgrafik „Swingeing London“ (1968) zu lesen.
In Wolfsburg ist man dann auf der Empore angelangt, wo Hamilton einen eigen Raum hat, für „Swingeing London 67“ und den Film, den James Scott, wie viele Pop-Art-Künstler ein Absolvent der Slade School of Fine Arts in London, 1969 über ihn drehte.
Die Gruppe als Fundament von British Pop
Dieser eigene Raum, den alle in der Schau vertretenen Künstler haben, darunter nicht nur die kanonisierten wie David Hockney, R. B. Kitaj, Peter Blake, Joe Tilson oder Allen Jones, sondern auch Entdeckungen wie Pauline Boty und Jann Haworth oder weniger bekannte Künstler wie Derek Boshier, Peter Phillips. Gerald Laing, Colin Self, Antony Donaldson, Patrick Caulfield und Richard Smith, ist das Problem der Schau.
Denn er vereinzelt, was zusammengehört. Fundament von British Pop war die Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen, die sich an den führenden Kunsthochschulen wie der Slade School, der St. Martin’s School of Art oder dem Royal College of Art in drei Wellen herausbildeten und die auch Leute aus der Musikbranche und der Mode einbegriffen und ganz früh eben auch die Independant Group und ihre Projekte am Institute of Contemporary Art (ICA).
Erstmals nach 1945 war aufgrund veränderter Zugangsvoraussetzungen ein Studium an diesen Hochschulen auch für Arbeiterkinder wie Hockney, Jones, Bosier, Phillips, Caulfield, Tilson und Self, möglich. Deren Klassenzusammengehörigkeit mag vielleicht die rauere Ästhetik und das deutlich politische Zeichen- und Zitatrepertoire erklären, das sich im British Pop immer wieder findet, etwa wenn Collin Self das Bond-Girl Ursula Andress mit dem Zeichen für einen nuklearen Fall-out-Schutzbunker kombiniert.
Nur für Pauline Boty und Jann Haworth, die als Frauen Außenseiterinnen und an den Hochschulen nur bedingt zugelassen waren − „the girls were there to keep the boys happy“ so Haworth −, könnte das eigene Haus stimmig sein. Haworth sorgsam genähte Soft Sculpture von 1962 „Donuts, Coffee Cups & Comics“ zitiert eine häusliche Szene. Doch es ist ja nur das riesige Volumen der Wolfsburger Halle, das Einbauten verlangt, die wie jetzt leicht zu kleinteilig geraten.
Den Pop feministisch aufmischen
Haworth war in Hollywood aufgewachsen, was das Motiv des Surfers verständlich macht. Eine weitere ihrer Stoffskulpturen, Shirley Temple mit einem „Welcome The Rolling Stones“-Pullover, ist auf dem „Sgt. Pepper's …“-Album-Cover abgebildet, das sie mit ihrem Ehemann Peter Blake konzipierte. Gemeinsam mit Pauline Boty mischte sie den British Pop mit Feminismus auf.
Boty versuchte die Rolle der Frau als Konsumartikel neben Konservendosen und schnellen Wagen, wie sie ihre Künstlerkollegen definierten, durch Affirmation zu unterlaufen, was ihr naturgemäß nur bedingt gelang. Deutlich wird aber in ihren Collagen und Gemälden ein weiblicher Blick auf die Konsum- und Massenkultur.
"This Was Tomorrow. Pop Art in Great Britain 1947 -1968" läuft im Kunstmuseum Wolfsburg bis zum 19. Februar 2017. Der lesenswerte Katalog, der im Wienand Verlag, Köln, erscheint, kostet 38,- Euro
Für die schöne, hippe und modische Akteurin von Swinging London, die schon mit 28 Jahren starb, handelte Pop von der „Sehnsucht nach dem Jetzt“. Statt distanzierend waren ihre popkulturellen Aneignungen identifikatorischer Natur. Und sie kehrte die sexuelle Ökonomie des Pop wie etwa in Laings „Anna Karina“ um. „With Love to Jean-Paul Belmondo“ (1962) zeigt den Helden der Nouvelle Vague in coolem Schwarz-Weiß mit einer riesigen roten Rose auf den Strohhut und darüber bunte Herzchen.
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