: Wo Opfer die Täter konfrontieren
sTRAFALTERNATIVE Neben der klassischen Bestrafung gibt es im deutschen Recht die Möglichkeit des Täter-Opfer-Ausgleichs. Experten für Strafrecht fordern, ihn viel häufiger einzusetzen. Bei sexueller Gewalt oder ideologischen Straftaten von Neonazis ist der TOA allerdings nicht geeignet
von Hannes Stepputat
Ob Streit in der Partnerschaft, unüberbrückbare Differenzen auf der Arbeit oder Ärger mit dem ollen Nachbarn, der immer die Büsche stutzt, die angeblich auf sein Grundstück wachsen – Konflikte gibt es überall. Wenn sie eskalieren, es zu Beleidigungen oder Handgreiflichkeiten kommt, kann Mediation helfen, damit beide Seiten wieder miteinander umzugehen lernen. Im Strafverfahren heißt das Täter-Opfer-Ausgleich (TOA).
Der TOA ist seit 1994 Bestandteil des deutschen Strafrechts und stellt die Umsetzung des Konzepts der „Restorative Justice“ dar, was so viel wie „wiederherstellende Gerechtigkeit“ bedeutet. Deren Grundidee ist es, weniger zu strafen, sondern eine Konfliktbeilegung zwischen den beteiligten Parteien direkt zu erreichen.
Hilfreich für beide Seiten
Vor allem die Perspektive der Opfer soll dabei gestärkt werden. Denn im klassischen Strafprozess bestraft der Staat den Regelbruch des Täters, während das Opfer davon wenig hat. Neben der Hilfe, den emotionalen Auswirkungen der Tat auf das Opfer Rechnung zu tragen, soll ein TOA auch präventive Wirkung haben: Wenn beide Seiten aktiv an der Aufarbeitung der Tat beteiligt sind und ihre Interessen berücksichtigt werden, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass es in der Folge zu weiteren Straftaten kommt. In der Praxis führt ein erfolgreich durchgeführter TOA häufig zu einer Strafmilderung oder sogar zur Einstellung des Verfahrens.
Doch ein TOA kann nur erfolgreich sein, wenn beide Seiten – vor allem jedoch das Opfer – freiwillig teilnehmen. Zudem müssen der oder die Täter bereit sein, Verantwortung für die Tat zu übernehmen. Deshalb kann ein laufender TOA jederzeit abgebrochen werden.
Angeregt wird ein TOA meist von der Staatsanwaltschaft. Sie bietet den Konfliktparteien an, sich außergerichtlich und mit professioneller Begleitung zu einigen und den Konflikt beizulegen. Dabei sollen die Interessen aller Beteiligten berücksichtigt und auch Ursachen, die womöglich erst zu dem Konflikt geführt haben, beseitigt werden. Vereinbarungen zur Wiedergutmachung gehören ebenfalls dazu.
TOA nur in einem Bruchteil der Fälle
Die Anregung erfolgt meist noch im Ermittlungsverfahren, bevor überhaupt Anklage erhoben wurde. Grundsätzlich ist ein TOA aber in jeder Phase eines Strafverfahrens möglich – auch vor Gericht. Von wem ein TOA schließlich durchgeführt wird, ist unterschiedlich. In Schleswig-Holstein sind die Jugendämter, die Gerichtshilfe und freie Träger für TOAs zuständig, in Niedersachsen der Ambulante Justizsozialdienst und freie Konfliktschlichtungsstellen.
Besonders häufig wird er jedoch offenbar nicht eingesetzt. So sind in Schleswig-Holstein im Jahr 2015 nach Angaben des Justizministeriums etwa 1.800 TOAs durchgeführt worden. Bezogen auf die Gesamtzahl der Ermittlungsverfahren entspricht das etwa 1,1 Prozent. In Niedersachsen waren es im selben Zeitraum knapp 2.600 oder nicht einmal 0,5 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern gar nur 210 Fälle (0,2 Prozent).
Bei Gewalttaten von Neonazis nicht geeignet
TOAs sind nicht immer sinnvoll, zum Beispiel bei rechter Gewalt. Der Arbeitskreis der Opferhilfen, ein Zusammenschluss der Einrichtungen, die sich speziell um Betroffene rechter Gewalt kümmern, hält TOAs für ungeeignet, „wenn die Tat aus ideologischer Überzeugung verübt“ worden ist. So steht es in einem Tagungsband des Arbeitskreises zum Verhältnis von Opferhilfe und TOA. Denn Voraussetzung für eine erfolgreiche Vermittlung ist die Bereitschaft des Täters, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und sein Unrecht anzuerkennen.
Weitere Besonderheiten rechter Gewalt erschweren einen erfolgreichen TOA: So sind die Betroffenen häufig generell in der Defensive und mit alltäglicher Diskriminierung, Gewalt und Bedrohungen konfrontiert. Dem im Rahmen eines TOA gerecht zu werden, hält der Arbeitskreis für schwierig. Dennoch kann ein TOA auch hier hilfreich sein, wenn sich Täter und Opfer persönlich kennen und eine Einigung es den Betroffenen ermöglicht, zukünftig ohne Angst im selben Ort wie der Täter zu leben. Voraussetzung sei jedoch, dass dieser nicht ideologisch gefestigt ist, so die Einschätzung des Arbeitskreises.
Auch bei Sexualdelikten werde der TOA nur ungern eingesetzt, sagt Bernd-Dieter Meier, Professor für Strafrecht an der Universität Hannover, denn die meisten Sexualdelikte würden im Beziehungsumfeld begangen. Wenn sich die oder der Betroffene dann zu einer Strafanzeige entschließt, sei die Linie oft überschritten, bis zu der ein TOA noch sinnvoll sein könnte, sagt Meier.
Besonders wertvoll sei das Instrument im Jugendstrafrecht, sagt eine Jugendrichterin am Amtsgericht Rostock: „Wir versuchen es so oft wie möglich einzusetzen, weil es gerade bei Jugendlichen erzieherisch sehr sinnvoll ist.“ Auch für die Opfer sei es häufig wichtig, den Täter vor sich zu haben und „mal was loswerden zu können“, sagt die Richterin. „Sie verlieren so die Angst vor dem ‚unbekannten Täter‘“.
Zweifel vom Streetworker
Ein Rostocker Sozialarbeiter, der auch als Mediator in Strafrechtssachen tätig ist und ungenannt bleiben möchte, schildert das anders: „Alle sagen ‚Ja, das ist gut‘, aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache.“ Seit Jahren überweisen die Staatsanwaltschaften in Mecklenburg-Vorpommern immer weniger Fälle, sei sein Eindruck. „Der TOA wird viel zu wenig genutzt, dabei könnten viele Fälle so gelöst werden.“ Selbst bei schweren Straftaten könnte der TOA helfen – auch den Hinterbliebenen bei Tötungsdelikten.
Das sieht auch Professor Meier so: „Wir brauchen den TOA viel mehr, auch bei schweren Delikten und auch nach Verurteilungen.“ Gerade im Jugendstrafrecht werde der TOA geradezu unter Wert verkauft.
Unter der Bezeichnung „opferbezogene Vollzugsgestaltung“ werde seit einigen Jahren die Ausweitung des TOA-Gedankens auf schwere Straftaten und die Zeit nach der Verurteilung diskutiert, sagt Meier. Denn Opfern und Hinterbliebenen schwerer Straftaten helfe ein Urteil allein nicht unbedingt. Eine Auseinandersetzung mit dem Täter und des Täters mit der Tat könnte ihnen weit mehr bringen, ist er überzeugt.
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