: „Ich darf Mielke Mörder nennen“
Dora Zimmermann
Besuch bei einer alten Dame: Dora Zimmermann ist 85 Jahre, lebt in einem Berliner Altenpflegeheim. Ihre Augen und Beine wollen nicht mehr so recht. Doch ihr Gedächtnis ist hervorragend. Vor allem, wenn es um ihren Vater, den Polizisten Paul Anlauf, geht. Erst elf Jahre alt war sie, als Erich Mielke ihn erschoss. Mielkes späterer Karriere zum Stasi-Chef tat der Mord keinen Abbruch. Mit der Wende kam für sie die ersehnte Gerechtigkeit. Im Prozess gegen Mielke verpasste sie als Nebenklägerin kaum einen Tag. Seine Verurteilung zu sechs Jahren wegen Mordes erlebte sie als Genugtuung – obwohl sie Gewissensbisse plagen, weil er nur für diese Tat bestraft wurde.
INTERVIEW PHILIPP GESSLERUND TINA HÜTTL
taz: Frau Zimmermann, wenn Reporter mit Ihnen sprechen, wollen sie etwas über Ihren Vater wissen, den Polizisten Paul Anlauf, der 1931 von Erich Mielke erschossen wurde. Der tote Vater als ewiges Thema Ihres Lebens – nervt das?
Dora Zimmermann: Ein Gespräch wie heute ist für mich immer noch nicht einfach. Aber ich tue es meinem Vater zuliebe. Ich habe ihn in so guter Erinnerung. Dass man ihn auf diese Weise umgebracht hat, nur weil er seinen Dienst tat, war so hässlich und gemein, dass ich ihn immer noch verteidigen muss.
Wie haben Sie ihn in Erinnerung? Sie waren erst elf Jahre alt, als er erschossen wurde.
In der Familie war er ganz sanft und ganz lieb. Besonders zu mir, ich war ja das Nesthäkchen. Meine Schwester war neun Jahre älter. Er war gebürtiger Schlesier und etwas christlich eingestellt. Nach außen war er sehr gerecht. Und eigentlich war er auch in der Gegend sehr beliebt.
In seinem Revier und Ihrem Wohnviertel, dem damaligen Bülow- und heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, nannte man ihn aber „Schweinebacke“.
Das tut weh. Aber es beweist auch, dass er sehr bekannt war. Im Dienst musste er natürlich die Gesetze wahrnehmen. Er war ja Reviervorsteher von einer sehr, wie kann ich sagen …
… lebhaften Gegend?
So sagen Sie das. Ich will ja niemandem wehtun. Aber es war eine ganz furchtbare Gegend, eine richtige Verbrechergegend. Es wurden viele Bücher darüber geschrieben.
Unter anderem kommt darin auch immer wieder der 9. August 1931 vor, der Tag, an dem sich Ihr Leben schlagartig änderte. Ihr Vater wurde vor dem Kino Babylon von den KPD-Genossen Erich Mielke und Erich Ziemer, beide im so genannten Parteiselbstschutz, erschossen. Was ist Ihnen von dem Tag noch im Gedächtnis?
Der Tag war sehr unruhig, überall waren Versammlungen und Grüppchen, die nicht sein durften. Mein Vater wollte mich nicht rauslassen, aber ich hatte im Nebenhaus eine Freundin, zu der ich abends wollte. Ich werde den Augenblick nicht los, als ich meinem Vater am Hals hing und bettelte – und er mich schließlich gehen ließ. Das war das Letzte, was ich von ihm mitgekriegt habe.
Wie haben Sie dann von seinem Tod erfahren?
Als ich wieder zurückkam, holte mich ein Polizist bereits auf der Treppe ab. Da war mein Vater schon tot. Als ich dann in die Wohnung ging, brauchte ich nur meine Schwester anzusehen.
Mit der Ermordung Ihres Vaters wurden Sie zur Vollwaise. Ihre Mutter war drei Wochen zuvor verstorben.
Meine Mutter war schwer herzkrank, eine Spätfolge von Scharlach, den sie als Kind hatte. Zu Hause wurde immer Rücksicht auf sie genommen, mein Vater liebte sie abgöttisch. Ich erinnere mich noch, dass sie 14 Tage im Krankenhaus war, bevor sie am 15. Juli 1931 an einer Nierenbeckenentzündung starb.
Wie ging es dann weiter?
Gott sei Dank hatte ich meine ältere Schwester. Sie war schon – wie könnte es anders sein – mit einem Polizisten verlobt und konnte sofort heiraten, sodass ich nicht ins Waisenhaus musste. Ich bin dann auf eine Tagesschule gegangen, die von Klosterschwestern geführt wurde. Es war eine gute Schule. Mein Vater hatte mich dort noch vor seinem Tod angemeldet.
Wann kannten Sie die Namen der Täter?
1934 hat man die Unterlagen gefunden und hat das auch festgehalten. Man fing damals schon einen Prozess an, in dem man alle Kommunisten angeklagt hat, die eventuell damit zu tun hatten.
Verurteilt, in drei Fällen sogar mit dem Tode, wurden dann aber andere.
Ja, warum? Weil Mielke und sein Komplize bereits am nächsten Tag nach dem Mord in die Sowjetunion geflohen waren. In den Zeitungen wurden ihre Namen schon genannt. Das waren die beiden, die tatsächlich geschossen haben. Beteiligt waren aber mehrere. Es wurden insgesamt drei Menschen verletzt, zwei tödlich und einer schwer.
Trotzdem: Die Nazis haben daraus einen Schauprozess gemacht. Das Urteil, das die Falschen traf, kann Sie doch nicht befriedigt haben.
Sie dürfen die Zeit natürlich nicht mit der heutigen vergleichen, wo einer den anderen abmurksen kann, und dann wird das noch entschuldigt. Heute wird kein Mensch mehr richtig bestraft.
Sie trugen bis zu Ihrer Hochzeit den Namen Anlauf. Wie hat man auf Sie reagiert, vor allem später nach Gründung der DDR, als Mielke zurückkam und Minister wurde?
Nach der Klosterschule habe ich Buchhalterin gelernt und in der DDR dann eine Stelle an der Humboldt-Universität gehabt. Obwohl es eine staatliche Einrichtung war, habe ich keine schlechten Erfahrungen gemacht – mit einer Ausnahme, als eine Kaderleiterin der Name Anlauf gestört hat. Sie ist nicht lange Kaderleiterin geblieben. Ich kann nur sagen, dass ich dort sehr viele Gönner hatte. Man hat mich in der Dienststelle in der ganzen Zeit, in der Mielke Minister war, das nicht fühlen lassen.
Wie erklären Sie sich das?
Das kann ich mir nicht erklären.
Wie aber haben Sie es ausgehalten in einem System, das den Mörder Ihres Vaters nicht nur deckt, sondern sogar zum Minister macht?
Ich bin schon oft gefragt worden, wie ich das überstanden habe. Das zu erklären würde zu weit führen. Nur so viel: Ich hatte einen sehr, sehr lieben Mann kennen gelernt und schnell geheiratet. Da hatte ich ein richtiges Zuhause. So geht es. Und man kann weggucken und still sein und keine Propaganda betreiben.
Bei Aufmärschen, etwa am 1. Mai, mussten Sie an Mielke vorbeilaufen.
Wenn es nicht anders ging, habe ich das gemacht. Aber wenn es möglich war, habe ich vorher die nächste Kurve gekratzt oder bin aus der Reihe getanzt. Das haben aber auch andere gemacht, die nicht Dora Zimmermann, geborene Anlauf, hießen.
Haben Sie jemals an Flucht gedacht?
Nein. Als ich den Staat satt hatte, war’s zu spät. Da hatte ich eine Tochter. Mich an der Grenze totschießen zu lassen wäre auch nicht richtig gewesen.
Als die Wende kam, haben Sie da sofort Ihre Chance gesehen, Mielke endlich vor Gericht zu stellen?
Ich hoffte sehr auf eine gerechte Strafe für ihn. Ich brauchte ja keinen Prozess anzustreben. Das hat sich von ganz alleine ergeben. Denn der schlaue Herr Mielke hatte die alten Akten zum Mordprozess in seinem eigenen Panzerschrank aufbewahrt. Sicher dachte er, ihm kann nichts passieren.
Sie waren Nebenklägerin beim Prozess gegen Mielke 1992. Sie haben bei diesem langen Prozess nur zweimal gefehlt. Einmal waren Sie krank, das andere Mal hatten Sie Geburtstag. Was haben Sie sich von diesem Prozess erhofft?
Gerechtigkeit. Und ich war neugierig, was man nun Mielke vorwerfen und beweisen kann. Denn jeder, der in der DDR gesagt hätte, Mielke ist ein Schuft, wäre eingesperrt worden. Und ich wollte natürlich meinem Vater helfen, indem ich an dem Prozess teilgenommen und mitgekriegt habe, dass doch eine gewisse Gerechtigkeit da ist und man Mielke wenigstens für seine Tat bestrafen konnte.
Gab es irgendwann eine Reaktion von ihm? Hat er Sie mal angeschaut?
Er saß in so einem Glaskasten und hat nur wirres Zeug im Gerichtssaal gemacht, um sich noch einmal großartig hervorzutun.
Mielke hat seine Tat nie zugegeben. Haben Sie ihn wegen seines Auftretens oder Leugnens verachtet – oder hatten Sie im Grunde keinerlei Beziehung zu ihm?
Ich will jetzt kein Urteil über ihn fällen. Er hat seine Strafe gekriegt – zumindest dem Alter entsprechend. Er hatte ja drei gute Verteidiger.
Er hat immer wieder betont, er sei krank und verhandlungsunfähig. Haben Sie ihm das abgenommen?
Nein, aber ich war da ja nicht maßgeblich. Aber man hat ihm nachgesagt, dass er seine Gebrechlichkeit gespielt hat, dass er sich etwa in unbeobachteten Momenten bücken konnte. Auch sein Mithäftling hat ihn nicht als Irren beschrieben, sondern als clever.
Er war, als er wegen Mordes verurteilt wurde und ins Gefängnis ging, so alt wie Sie heute: 85 Jahre. Fanden Sie es nicht zu spät, einen so alten Mann noch einmal vor Gericht zu bringen?
Mord verjährt nicht. Wegen seines Alters wurde er ja nur zu sechs Jahren verurteilt. Damit hatte ich mich damals abgefunden. Man hat mir das erklärt. Der Staatsanwalt wollte noch in Revision gehen. Er wollte zehn Jahre. Aber man hat sich dann auf sechs Jahre geeinigt, weil man wusste, dass er wohl nur noch wenige Jahre leben würde.
Nach zwei Jahren Haft wurde er vorzeitig entlassen.
Das macht man allgemein, nicht nur bei Herrn Mielke.
War seine vorzeitige Entlassung für Sie dennoch eine gewisse Niederlage oder war Ihnen das dann egal?
Es ist bekannt geworden, dass Mielke ein Mörder ist und zwei Offiziere von hinten erschossen hat, ganz feige und hässlich. Er ist also ein Meuchelmörder. Ich tue, weil er verurteilt wurde, nichts Verkehrtes, wenn ich ihn Mörder nenne.
Haben Sie – abgesehen von dem Mord an Ihrem Vater – gehofft, dass Mielke jemals auch für seine Tätigkeit als Stasi-Minister wegen Anstiftung zum Mord und wegen der Mauertoten vor Gericht kommt?
Sehr viel andere mussten auch ihr Leben lassen, das stimmt. Und mir hat es in der Seele Leid getan. Aber er war nun einmal alt. Und hier hatte man das Glück, dass Unterlagen vorhanden waren und man ihm beweisen konnte, dass er zwei völlig unbehelligte Polizeioffiziere erschossen hatte. Aber ich habe Gewissensbisse gehabt, weil er nur wegen dieser Sache zur Verantwortung gezogen wurde. So kaltblütig bin ich nicht.
Zwei Ihrer Neffen – man sieht die Fotos an Ihrer Wand – sind Polizisten geworden. War das für Sie einfach? Schließlich passieren Polizistenmorde ja auch noch heute.
In meiner Familie hat man immer sehr viel Wert auf das Andenken an meinen Vater gelegt. Meine Neffen wussten von vornherein, dass ihr Großvater im Dienst erschossen wurde. Dennoch sind beide zur Polizei gegangen und dort etwas geworden. Ich hatte keinen Einfluss darauf, aber fand es trotzdem ganz gut. Obwohl mein Vater nicht da war, blieb er in meiner Familie immer das Oberhaupt. Das ist er heute noch bei mir. Obwohl ich die Letzte bin, die das sagen kann.
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