Kalendarischer Herbstanfang: Ciao stabilimenti
Am Donnerstag ist der Sommer vorbei, das Baden war so schön. Zwei Momentaufnahmen über nasse Sitten aus London und Rom.
Wem es nicht genügt, Leitungswasser zu trinken, das von multinationalen Konzernen in Plastikflaschen gefüllt wurde, hat auch andere Möglichkeiten der Erfrischung in Schienennähe: Der „King’s Cross Pond“ liegt fußläufig von einem der größten Londoner Bahnhöfe, King’s Cross, von dessen Gleis 9 ¾ auch der Hogwarts-Express abfährt. Vom benachbarten Bahnof St. Pancras aus verkehrt hingegen der Eurostar, was in Zeiten des Brexit noch unwirklicher erscheint.
Schon nach ein paar kräftigen Zügen in dem kalten, klaren Wasser mit dem teichtypischen Grünstich empfindet man die Temperatur als angenehm kühl und kann nur noch lächeln über die anderen am Rand, die sich nicht herein trauen – obwohl sie dieses kühle Bad schon mindestens zwei Tage im Voraus online gebucht haben, für 5 Pfund, so wie über 20.000 weitere Londoner im letzten Jahr.
Nur wenn man zu den Seerosen schwimmen will, stößt man sich empfindlich das Knie. Zwar sind die Seerosen, die hier mitten in der Londoner Innenstadt, zumal inmitten einer Großbaustelle, in einem Teich blühen tatsächlich echt, der Teich ist es jedoch nicht. Er ist Großbritanniens erster von Menschenhand geformter öffentlicher Badeteich mit Frischwasser. Er ist ein Kunstwerk, eine beschwimmbare Installation – ein kleines Schwimmbad mit Einstiegsleitern, auf dessen Grund keine blauen Kacheln schimmern, stattdessen rutscht man mit den Füßen über Algenbelag.
Der King’s Cross Pond wurde im Mai letzten Jahres von den Architekten Eva Pfannes und Sylvain Hartenberg sowie der Künstlerin Marjetica Potrč entworfen. Der Bereich, in dem die Seerosen und das Schilf vegetieren, ist zu deren Schutz mit einer Unterwassermauer abgetrennt. So wie umgekehrt hier plantschende Kleinkinder mit einer schwimmenden Abgrenzung vor den flaschgrünen Tiefen des Teichs geschützt werden – das Verhältnis von Mensch und Natur ist das grundlegende Thema der Installation, und Schutz ist offensichtlich ein wichtiger Punkt.
Doch hier im Pool läuft es soweit ganz gut. Falls ein Kleinkind zusätzliche Flüssigkeit im Wasser lassen sollte, übernehmen die Pflanzen die Reinigung. Das Wasser wird weder geheizt noch mit Chlor malträtiert, Mensch und Natur umschmiegen hier einander behutsam, während ringsherum die Hölle los ist. Der Teich liegt inmitten eines städtebaulichen Entwicklungsgebietes nördlich des Bahnhofs. Wo früher alte Industriekomplexe vor sich hin rotteten, wird nun im großen Maßstab investiert. Gewinnmaximierendes, hochverdichtetes Bauen nach oben, für eine Dreizimmerwohnung kann man hier locker 2 Millionen Pfund hinlegen; ein weiteres Highlight in der Spirale des Wahnsinns, in der sich die Londoner Immobilienpreise in Richtung Weltall bewegen. Die UK-Google-Zentrale ist schon fertig, an den Bürofenstern sieht man Emojis und andere Internet-Symbole, die aus analogen Post-it’s zusammengesetzt sind; sogar bei Google langweilen sich Büroangestellte manchmal. Oder würden lieber schwimmen gehen.
Das Konzept des King’s Cross Pond sieht vor, das man herkommt, sich in einer der rot-weißen Kabinen umzieht, ein paar Runden dreht – und mit „neuen Freunden und Energien“ zurück in die Stadt kommt. Was tatsächlich ganz gut funktioniert, so wie die Bioreinigung: Die Anzahl der Besucher, die auf einmal den Pond besuchen darf, ist begrenzt, daher die Buchung im Voraus. Man geht sich daher auch bei gutem Wetter im Wasser nicht auf die Nerven, sondern kann miteinander in Kontakt kommen, ohne dazu aufgrund der Enge gezwungen zu sein. Auf dem Liegehügel, der den Teich in sich birgt, findet man Platz und Kranschatten, während überall frenetisch gebohrt und gehämmert wird.
Das subversive an diesem Kunstwerk entfaltet sich erst nach einiger Zeit, quasi subkutan. Menschen, die in natürlichem Wasser schwimmen und zu sich und der Welt finden, während ringsherum der öffentliche Raum zubetoniert wird.
Aber damit ist nun Schluss: Der Pond wird zum 26. Oktober geschlossen, eine Bürgerpetition, die schon in den ersten Tagen über 1.000 Stimmen zum Erhalt gesammelt hatte, blieb erfolglos: Das Projekt war zeitlich begrenzt und bleibt es auch. Der zweite Sommer war der letzte für den Pond. Die Investoren haben angekündigt, dass ein Park daraus werden soll. Das Übliche. MARTIN REICHERT
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„Ein Platz in der ersten Reihe?“ Der Inhaber schüttelt den Kopf, schaut dann kurz auf seinen Plan, auf dem alle Sonnenschirme eingezeichnet sind. Sein Gesicht hellt sich auf. „In der fünften Reihe wäre noch was frei, ein Schirm, eine Liege, ein Liegestuhl, macht 23 Euro“.
Die nächsten Stunden am Strand versprechen also den Blick nicht so sehr aufs Wasser als auf den Wald dunkelblauer Schirme, auf das Dickicht der im gleichen Ton gehaltenen Strandliegen, auf die schwitzenden, glänzenden, braungebrannten Körper, die es sich dort bequem gemacht haben.
Millionen Italiener verbringen so ihre Sommer: im stabilimento, dem Strandbad, an der Adriaküste in Cattolica oder Rimini, am Tyrrhenischen Meer, von Ligurien bis runter nach Kalabrien, am Ionischen Meer, auf Sizilien, Sardinien oder Lampedusa. Gewiss, die Aussicht wechselt, mal sind die Schirme dunkelblau, mal giftgrün, mal quittengelb.
Doch im Kern ist das Programm immer gleich, ob im Nobel-stabilimento „L’ultima spiaggia“ in der Südtoskana, hoch frequentiert von Roms linker Schickeria, oder in Ostia, dem Stadtstrand der Hauptstadt, wo das gemeine Volk baden geht: Im wesentlichen ist es eine Pritsche, die über Tag von rechts nach links, von vorn nach hinten geschoben werden muss, um den teuer bezahlten Schatten zu genießen.
Während dieses Verhalten noch einleuchtet, hat die Strandsoziologie noch nicht so recht den entgegengesetzten Typus eingeordnet: denjenigen, der seine Liege konsequent so umstellt, dass er immer schwitzend in der prallen Augustsonne liegt, auch wenn das Thermometer am Eingang des stabilimento 35 Grad anzeigt, auch wenn er in teureren Strandbädern 60 Euro hingelegt hat, um sich einen übergroßen Schirm zu sichern, der aussieht wie ein norddeutsches Reetdach.
Zwei Erklärungen bieten sich an. Da wäre erstens der Komfort. Kein Steinchen drückt unter dem Badetuch, der lästige feine Sand klebt bloß an den Füßen, Nackenschmerzen stellen sich auch dann nicht ein, wenn Antonella oder Luigi im Urlaub den neuen 500-Seiten-Schmöker von Elena Ferrante abarbeiten wollen.
Zudem bietet die Bar Getränke, Chipstüten, Eiscreme, zu essen gibt es mindestens Panini – belegte Brötchen mit Mortadella oder Mozzarella – oft genug aber auch wahre Restaurantküche von Spaghetti mit Venusmuscheln über Calamari fritti zu Thunfischtartar.
Weiter führt jedoch womöglich die zweite Erklärung. Im besten Merkel’schen Sinne sind die stabilimenti, mit der Ausnahme einiger weniger entlegener Winkel im Südwesten Sardiniens, einfach „alternativlos“. So gut wie jeden Fleck direkt am Wasser haben sie okkupiert, vom kargen Fels auf Capri zum mikroskopisch feinen Sand im toskanischen Punta Ala. Gewiss, jede Kommune muss an ihrem Küstenabschnitt auch einen „freien Strand“ vorhalten. Der aber ist, zum Beispiel im römischen Ostia, klitzeklein, im Juli oder August ist dort größtmögliche menschliche Nähe garantiert. Wer erst um 11 Uhr eintrifft, findet schier keinen Platz mehr, um sein Handtuch auszubreiten – zur Freude der Betreiber der stabilimenti.
Denen helfen die Kommunen nicht bloß mit der Verknappung des Angebots an freien Stränden, sondern auch mit oft genug lächerlich niedrigen Pachtgebühren. Ein paar tausend Euro sind für die ganze Saison fällig: soviel, wie ein gut laufendes Strandbad an einem einzigen Wochenende umsetzt.
Doch jetzt mit Herbstbeginn fallen die stabilimenti erst mal in den Winterschlaf. Und ganz Italien wird bis zum nächsten Mai zu einem einzigen großen freien Strand, ganz ohne Hilfe der EU. MICHAEL BRAUN
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