: „Guten Tag erst mal!“
Rückendeckung Im Angesicht beunruhigend hoher Umfragewerte für die AfD schüttelt Merkel Hände, besucht ein Museum und ein Kaufhaus. Die Kanzlerin zwischen Socken und Sanddorn-Creme – das kommt gut an
Von Rügen Anja Maier
„Gibt’s hier Bananen, oder was?“ Angela Merkel grinst in die Runde. Sie weiß ja: Die Leute hier im Kaufhaus Stolz, die warten auf sie. Manche haben in der Lokalzeitung gelesen, dass die Kanzlerin nach Sellin auf Rügen kommt. Die meisten jedoch haben gerade erst erfahren, dass gleich „die Merkel“ auftaucht. Jetzt bilden sie eine Wartegemeinschaft, tatsächlich sieht das ein bisschen aus wie eine Schlange vor einem DDR-Gemüseladen.
„Guten Tag erst mal“, sagt die Kanzlerin jetzt und schüttelt Hände. Kinder machen ein Selfie mit ihr. Es ist eng, aber die Security muss nichts befürchten. Die Leute glucksen vor Wonne. „Boah, ist die klein!“, flüstert ein Mädchen ihrer Freundin zu. „Das glaubt mir zu Hause wieder keiner“, seufzt ein Urlauber im geringelten Poloshirt. Die Kanzlerin in einem Kaufhaus auf Rügen! Einfach so.
Der Coup funktioniert. Man geht nichts ahnend ein Strandlaken kaufen; und wen trifft man, zwischen Socken und Sanddorn-Creme? Angela Merkel. Überraschung, Freude, Nähe – es kann so einfach sein. Der Berliner Politikbetrieb, die Türkei, Horst Seehofer, all das scheint von Rügen aus Lichtjahre entfernt.
An diesem Augusttag ist Angela Merkel unterwegs in ihrem Wahlkreis. Er reicht von Greifswald bis zum Darß und bis hinauf in den nordöstlichsten Zipfel der Insel Rügen. Hier leben jene Leute, die Merkel in den zurückliegenden zweieinhalb Jahrzehnten zuverlässig gewählt haben. 45 Prozent der Zweitstimmen waren es bei der letzten Bundestagswahl.
Diesmal ist Merkel gekommen, um zu helfen. In gut zwei Wochen sind Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern. Die Umfragen verheißen nichts Gutes. Zwar verliert vor allem die SPD mit ihrem Ministerpräsidenten Erwin Sellering. Aber das ist kein Grund zur Genugtuung. Denn die Alternative für Deutschland (AfD) liegt bei 19 Prozent. Für eine Partei, die im Grunde nichts verspricht außer Opposition, ist das beunruhigend gut.
Das Wahlergebnis vom 4. September wird ein wichtiger Hinweis darauf sein, worauf sich die Bundes-CDU im September 2017 einstellen muss. Wenn die AfD mit nichts als Parolen den Volksparteien die Stimmen abnehmen kann, wird sich auch die Merkel-Partei um diese Leute kümmern müssen. Und kümmern könnte bedeuten, ihnen nach dem Munde zu reden. Den örtlichen CDU-Landtagskandidaten Burkhard Lenz machen die Umfragen ratlos. Fährt er durch seinen Wahlkreis, sieht er ausgebaute Straßen und frisch abgeerntete Felder, er sieht akkurat gepflegte Vorgärten und reetgedeckte Häuser. Die Insel ist voller Urlauber, das Tourismusgeschäft brummt.
Auf die Frage, warum seine Rüganer trotzdem so unzufrieden sind, antwortet Lenz, was gerade alle Politiker sagen. „Die Leute fühlen sich nicht mehr mitgenommen.“ Und: „Die gefühlte Sicherheit ist angeblich nicht mehr da.“ 12.500 Flüchtlinge leben aktuell in Mecklenburg-Vorpommern, weniger als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Lenz’ Tochter und seine Frau helfen Flüchtlingen, er selbst hat Syrer schon auf sein Ausflugsschiff „Julchen“ eingeladen. Warum diese Leute die Sicherheit bedrohen sollen, es erschließt sich ihm nicht. Dass ausgerechnet die „Wir schaffen das“-Kanzlerin ihn im Wahlkampf unterstützt – nützt das oder schadet es eher? „Das nützt, auf jeden Fall“, sagt Lenz. „Sie hat ja schon einige Probleme hier angepackt und gelöst.“
Tatsächlich hat Angela Merkel einiges gewuppt in ihrem Wahlkreis. Sichtbarster Ausdruck ist die A 20, genannt Merkel-Autobahn, die just zum Beginn ihrer Kanzlerschaft im Dezember 2005 eröffnet wurde. Ein leergefegter 200-Stundenkilometer-Traum für Raser, Kosten: 1,9 Milliarden. Aber Merkel kümmert sich auch um kleine Dinge. Mal geht es um einen Radweg, mal um Hochwasserschutz, dann wieder um ein Heimatmuseum. Sie hat ihre Leute vor Ort. Die wissen, wo es hakt.
Es gibt da diesen Mythos: Merkel und die Rüganer. In Lobbe auf Rügen ist eines der berühmtesten Merkel-Fotos entstanden: die Fischer und Kohls Mädchen. Am 2. November 1990 reiste die 36 Jahre alte Angela Merkel durch ihren neuen Wahlkreis. Sie war seit fünf Wochen die Kandidatin der CDU Mecklenburg-Vorpommerns für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl. Sie kannte hier kaum jemanden, der Wahlkreis war ihr von Parteifreunden verschafft worden. Die Leute von sich überzeugen musste sie schon selbst.
In Lobbe betrat sie damals einem Schuppen. Die Fischer der Genossenschaft machten gerade Pause. Sie setzte sich dazu, ein Bild-Fotograf drückte ab. Zu sehen ist eine junge Frau, beschienen von der tief stehenden Novembersonne. Sie hält die Hände auf der Tischplatte zusammen, schaut abwartend in die Runde. Zigarettenrauch steigt auf, an der Wand hängt Ölzeug. Jeder der fünf Männer schaut in eine andere Richtung.
Man sieht: So fing das an mit Merkel. Dort kommt sie her. Und obwohl das nicht stimmt – Merkel wurde in Hamburg geboren, wuchs in Templin auf und wohnt in Berlin –, hat dieses Bild Geschichte geschrieben. Man kann darauf Eigenschaften erkennen, die sie bis heute ausmachen: Sachlichkeit. Interesse. Wenig Emotionalität.
Der Schuppen steht noch. Am Ortsausgang von Lobbe pfeift der Ostseewind durch die zerschlagenen Fenster. Drinnen lagern Bänke, ein Grill, eine Zapfanlage. Am Strand, wo einst die Fischer ausfuhren, liegen Sonnenhungrige auf bunten Handtüchern. Geht es nach dem örtlichen Bürgermeister, soll aus dem „Merkel-Schuppen“ eine Touristenattraktion werden.
Seit Jahren kämpft Ulrich Kliesow darum, den Schuppen zu renovieren. Die Gemeinde könnte ein Schild an die Wand schrauben, das den Urlaubern erklärt, dass hier alles angefangen hat mit dem „Merkelchen“, wie er sie auch nennt. Aber die Behörden machen Probleme. Dass Merkel auf ihrer Rügen-Reise nicht zum Lobber Schuppen kommt, findet Kliesow in Ordnung. „Das möchte ich ihr nicht antun“, sagt er, das Ding sei in einem schlimmen Zustand.
Nach jahrelangem Streit – die Ruine steht in der Hochwasserschutzzone – hat sich die Gemeinde kürzlich auf einen Kompromiss eingelassen. „Wir reißen den Schuppen ab und bauen ihn fünfzig Meter landeinwärts wieder auf“, sagt Kliesow. „Bei allen Wünschen wegen der Historie und so – die Angst vor der Sturmflut ist größer.“
Lobbe, das sei eine von Merkels „schönsten Erinnerungen“, erzählt Burkhard Lenz. Tatsächlich ist das berühmte Foto eines von ganz wenigen auf ihrer Webseite. „Das war eine intensive und spannende Zeit“, steht darunter. Dennoch glaubt auch der Landtagsabgeordnete Lenz nicht, dass Angela Merkel Wert auf diese Art Personenkult legt. „Das passt nicht zu ihr.“
Sie weiht lieber andere Projekte ein. Zum Beispiel den neuen Freizeithafen in Baabe, fünf Kilometer nördlich von Lobbe. Bürgermeister Hartwig Diwisch ist glücklich. 25 Liegeplätze für Sportboote, zwei Schiffsanleger! Als Merkels schwarze Limousine bremst, hat gerade ein Schiff angelegt. Die Urlauber gehen von Bord, sie haben Fahrräder dabei und Picknickkörbe. Die Sonne scheint, es geht ein Lüftchen. Und da! Das ist sie doch?! Grauer Blazer, schwarze Hose, Bequemschuhe, diese fest sitzende Frisur. Tatsächlich, Angela Merkel.
Es geschieht dasselbe wie in Sellin. Die Leute drängeln, sie lachen, zücken ihre Mobiltelefone. Es ist dieser seltsame Feenstaubeffekt, der bei Promis in der Öffentlichkeit funktioniert. Egal ob Roland Kaiser, Boris Becker oder Angela Merkel. Wie auch immer man sonst über die denkt und redet – die unverhoffte Nähe erzeugt Sympathie.
Die Kanzlerin begrüßt zuerst die Kurdirektorin und den CDU-Abgeordneten Lenz. Dann dreht sie sich um. „Guten Tag erst mal!“, sagt sie. „Schönes Wetter haben Sie mitgebracht“, ruft ein Mann. Merkel kneift die Augen gegen die Sonne zu, lächelt ihr Lächeln: schmale Lippen, breite Wangen. Die Leute beginnen zu klatschen. „Jawoll!“, ruft jemand. „Frau Merkel, ich hoffe, Sie halten Ihr Pensum durch!“, ein anderer. „Bravo!“, tönt es.
Was sich in Baabe ereignet, ist das Gegenteil von dem, was derzeit medial als Merkels öffentliches Bild verhandelt wird. Erschöpft sei die Kanzlerin, heißt es im politischen Berlin. Sie zeige in der Flüchtlingsfrage zu wenig Emotion, wurde nach ihrer Sommer-Pressekonferenz kritisiert. Sie entferne sich immer weiter von ihrer Partei, monieren CDUler. Auf Rügen zeigt sich der Widerspruch zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung.
Mag sein, dass nicht jeder hier Merkels Kurs in der Flüchtlingspolitik gutheißt. Mag sein, sie hat sich mit dem Türkei-Flüchtlingsdeal „die Hände schmutzig gemacht“, wie ein Urlauber sagt. „Aber“, sagt eine 18-jährige Abiturientin, „sie tut, was man tun muss.“ Sie habe, sagt ein älterer Rüganer, „nun mal die Übersicht“. Eine blond gelockte Frau sagt: „Man möchte nicht in ihrer Haut stecken, die Welt spielt ja verrückt.“
Vielleicht ist das das Geheimnis: Von Verrücktheiten ist diese Frau im grauen Blazer meilenweit entfernt. Zum Zweck der eigenen Legendenbildung einen Schuppen abzureißen und fünfzig Meter weiter wieder aufzubauen – so etwas käme ihr nicht in den Sinn. Dann lieber noch fünf Radwege einweihen.
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