Friedensmärsche in der Ukraine: Kreuzzug unter dem Banner Moskaus
Zwei Prozessionen folgen dem Aufruf der ukrainisch- orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Sie ziehen von Westen und Osten nach Kiew.
Schytomyr, eine Kleinstadt 140 Kilometer westlich von Kiew, ist eine von vielen Zwischenstationen. Juri stammt aus der Bukowina im Westen der Ukraine und ist einer von tausenden orthodoxen Gläubigen, die seit über zwei Wochen in einem Kreuzzug „für den Frieden, die Liebe und das Gebet für die Ukraine“ mit marschieren.
Bei vielen Ukrainern löst die Prozession Ängste und Kontroversen aus. Der Friedensmarsch bewegt sich gleichzeitig in zwei Zügen – vom westlichen Ternopil und vom östlichen Charkiw aus in Richtung Kiew. Angeführt wird er von Geistlichen aus 12 Diözesen. Die Gläubigen tragen Ikonen der Gottesmutter, die Frieden und Liebe symbolisieren sollen. Das Ziel ist das Höhlenkloster in Kiew, wo sich beide Prozessionen am 27. Juli treffen sollen. Das Datum ist ebenso symbolbehaftet. Am 28. Juli wird der Jahrestag der Taufe der Kiewer Rus begangen.
„Mit tiefer Besorgnis im Herzen erleben wir diese Tragödie – den bewaffneten Konflikt im Osten der Ukraine, wo unschuldiges Blut unserer Landsleute vergossen wird“, wendet sich Mitropolit Onufri, das Oberhaupt der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, in einem Aufruf an seine Gläubigen. „Das Größte, was unsere Kirche tun kann, ist für den Frieden zu mahnen. Gerade das ist der Sinn des allukrainischen Kreuzzugs“.
Zweifel an der Aufrichtigkeit
Viele Ukrainer zweifeln an der Aufrichtigkeit dieser Worte. Seit dem Ausbruch des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine setzen nicht wenige die – in der Ukraine zahlenmäßig größte – Kirche des Moskauer Patriarchats mit der Politik des Kremls gleich. Ähnliche Kreuzzüge fanden 2014 vor dem Konflikt in Donbass statt, als bewaffnete Kämpfer die ostukrainischen Städte einnahmen. Sie stellten sich hinter die Frauen mit Ikonen, und der Moskauer Patriarch Kyril segnete die Separatisten. „Ich gehe nicht mehr in diese Kirche, meine Familie haben sie verloren. Sie geben Moskau unser Geld, damit es unsere Mitbürger tötet“, sagt Olga, die den Friedensmarsch kategorisch ablehnt.
Die Gegner argumentieren damit, dass der Kreuzzug in Wirklichkeit eine politische Aktion ist, die darauf zielt, den Einfluss des Moskauer Patriarchats in der Ukraine zu festigen. Gegen die Prozession tritt auch die zweitgrößte ukrainisch-orthodoxe Kirche, die des Kiewer Patriarchats, auf. 1991, im Zuge der Gründung des ukrainischen Staates, forderte auch die ukrainisch-orthodoxe Kirche die Unabhängigkeit von Moskau. Das war der Ausgangspunkt für die kirchliche Spaltung und Entstehung der Kirche des Kiewer Patriarchats. Allerdings bleibt die Kirche des Moskauer Patriarchats die einzige kanonisch anerkannte orthodoxe Kirche in der Ukraine.
Vor Kurzem hat sich das ukrainische Parlament an den Patriarchen der weltlichen orthodoxen Kirchen mit den Bitte gewandt, eine einheitliche autokephale orthodoxe Kirche in der Ukraine zu gründen. Ohne Genehmigung des Moskauer Patriarchen Kyril ist eine solche Gründung jedoch nicht möglich. In Schytomyr kam es zu Rangeleien zwischen den Prozessionsteilnehmern und Vertretern des Rechten Sektors. Letztere sperrten die Straße, um den Zug nicht durch die Stadt laufen zu lassen. Die Begründung: der Marsch würde an einer Kaserne vorbeiziehen, wo vor Kurzem ein Militärangehöriger begraben wurde, der im Osten der Ukraine gefallen war. Nachdem die Route geändert wurde, durften die Gläubigen ihre Prozession fortsetzen.
Die Teilnehmer nehmen große Strapazen auf sich. Sie marschieren trotz Hitze oder Regen dutzende Kilometer täglich. Sie übernachten und essen in den Kirchen oder den Häusern der Gläubigen. Die meisten sind ältere Frauen und junge Familien mit Kindern. Sie tragen Ikonen, beten und singen. Weder Georgsbändchen noch ukrainische Fähnchen sind zu sehen. Während die Prozession an einem Dorf vorbeizieht, wird sie von knienden Gläubigen begrüßt. Die Dorfbewohner versorgen die Marschierer mit Wasser und Essen.
„Ich laufe mit, weil ich das Bedürfnis habe. Die Verzweiflung in der Ukraine soll ein Ende haben!“, sagt Oksana, eine junge Frau. „Ruhm der Ukraine!“, schreit ein Mann an einer Haltestelle, als der Zug vorbeikommt. „Ruhm dem Gott!“, antworten ihm mehrere aus dem Kreuzzug. Die Angst vor Provokationen ist groß. Bis zu 20 Polizisten sorgen in jedem Ort für Sicherheit. Die größte Sorge macht allen Seiten der Höhepunkt in Kiew, wo sich die zwei Prozessionen treffen werden.
Aus dem Russischen Irina Serdyuk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels