AusDeutschland wird nicht Europameister. So viel steht fest. Dennoch glaubt Bundestrainer Joachim Löw, eine tolle Mannschaft zu haben. Ob das wohl stimmt?: Gute Verlierer
aus marseille Peter Unfried
Jetzt ist die Frage selbstverständlich: Woran hat’s gelegen? Joachim Löw ist der Meinung, dass es von Menschen unbeeinflussbare Faktoren waren, die in der Nacht von Marseille zum 0:2 gegen Gastgeber Frankreich geführt hat. Der Bundestrainer besteht darauf, dass sein Team „die bessere Mannschaft“ war, die Didier Deschamps’ Franzosen weitestgehend taktisch und körperlich beherrscht habe. Für den Heimflug am Freitag hatte er mit seinem Trainerteam eine Besprechung anberaumt. Aber, sagte er noch in Marseille und versuchte dabei einen möglichst entspannten Eindruck zu machen: „Insgesamt wird es eher eine kurze Analyse geben: So viele Fehler habe ich nicht festgestellt bei diesem Turnier.“ Fazit: „Eine tolle Mannschaft.“
Zunächst mal: Es war eine großartige Nacht in Marseille, aber eben am Ende eine großartige französische Nacht. Aus Sicht von Sélectionneur Deschamps kann man den Spielverlauf ideal nennen. Konkret: Antoine Griezmanns Führungstreffer per Handelfmeter in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Nach einer französischen Ecke war Bastian Schweinsteiger der Ball an die Hand geraten. „Das ist einfach auch Pech“, sagte Löw. War es auch. „Wenn wir mit 0:0 in die Halbzeit gehen, passiert gar nichts“, behauptete Torhüter Manuel Neuer. Auch der Spieler Olivier Giroud sagt, dass „der Elfmeter das Spiel entscheidend verändert hat“. Davor waren die Deutschen klar in Kontrolle gewesen, das Tor spielte Frankreich extrem in die Hände.
Wenn man nun fragt, warum das Team nicht in der Lage war, selbst ein Tor zu schießen, dann betritt man ein weites Feld. Tja. „So ist es manchmal“, sagte Schweinsteiger. Deschamps hatte trotz des Verzichts auf seinen zentralen Mittelfeldspieler Kanté alles andere als offensiv gespielt, sondern sehr kompakt gestanden und versucht, die Deutschen in die Falle zu locken und sie mit seinen Umschaltspielern auszukontern. Frankreichs Abwehr ist doch besser, als sie ihre Kritiker gemacht haben. Und die Deutschen mussten höllisch aufpassen.
Zum anderen waren die Möglichkeiten des Teams ohne Khedira, Gomez und vor allem Hummels begrenzter als erhofft. Es reichte für Dominanz mit breit aufgezogenem Ballbesitzspiel, aber nicht für die Klasse, die es gebraucht hätte, einen Rückstand zu drehen. Es fängt damit an, dass Hummels-Vertreter Benedikt Höwedes zwar gegen Giroud das großartigste Tackling gelang, seit Frank de Boer 1998 im WM-Halbfinale an gleicher Stelle gegen Brasiliens Ronaldo rettete. Aber mit dem Ball ist der Schalker nicht zu gebrauchen.
Um auf so engem Raum aus dem Spiel heraus Tore zu schießen und gleichzeitig stabil bleiben zu können, müssen sich herausragende Qualitäten so verknüpfen, dass eine Kette entsteht. Diese Kette entstand nicht. Und dann sind die Deutschen in diesem Turnier eben auch nicht so effizient vor dem Tor gewesen, wie das die Franzosen sind, oder genauer gesagt, wie es Griezmann ist. Joachim Löw hat die Deutschen nicht nur seit 2006 jedes Mal mindestens ins Halbfinale der großen Turniere geführt. Er hat den deutschen Verbandsfußball transformiert und vor allem die kollektive Idee, wie dieser zu sein habe. Seit Löw begründen die Deutschen ihren Fußball mit Ästhetik und Moderne – und gewinnen. Jedenfalls meistens.
Er hat es im Verlauf der EM immer wieder geschafft, Probleme zu lösen, personell-positionelle Defizite zu kompensieren und erfolgreiche Variationen seines Spielstils für den entsprechenden Gegner zu finden. Philipp Lahm fehlt, ja. Aber der Witz an Lahm ist nun mal, dass er ein solitärer Spieler ist. Löw hat auch keinen Klose mehr, und er hat Mario Gomez als eine Variante recycelt, und Gomez war eine effektive. (Götze weniger.) Er hat keinen Superdribbler, und Draxler ist das Nächstbeste. Er hat sich vom aktionistischen Flankenschlagen nur wenig anstecken lassen. Er hat die Mühen der Höhe im Griff. In der Regel.
Die naheliegende Erklärung lautet also, dass im Halbfinale von Marseille zu viele Probleme zusammenkamen. Eine andere Erklärung wäre, dass die permanente Entwicklung des Teams mit dem WM-Titel 2014 an ein Ende gekommen ist oder sogar rückläufig ist. In der Qualifikation war das Team nicht so souverän und spektakulär wie in den Jahren zuvor. Auf der anderen Seite sind die Deutschen in Löws ersten Jahren von Spanien noch dominiert worden. Inzwischen wollen sie jedes Spiel dominieren und tun das auch. Und die anderen stehen hinten drin.
Löws Hoffnung, dass ab dem Achtelfinale offener Fußball gespielt würde, hat sich nicht erfüllt. Deschamps hatte sich sehr genau überlegt, wie er dem deutschen Dominanzspiel begegnen würde. Und am Ende konnte Toni Kroos keinen entscheidenden Ball durchstecken und Mesut Özil auch nicht. Und die Chancen waren auch längst nicht so groß, wie Löw tat.
Dass selbst die Franzosen nach einer Viertelstunde so tief wie die üblichen Verdächtigen verteidigten, mag ein Grund sein, warum Löw ständig insistiert, das bessere Team gehabt zu haben. Er kann so einen Fußball nicht ab. Es erscheint ihm als zu akzeptierender Teil der Unkalkulierbarkeit des Spiels. Gleichzeitig könnte er kotzen.
Nach Paris fahren die Franzosen und die Portugiesen, und man wird sehen, wer sich am Sonntag tiefer hinten reinstellt. Durch die Erweiterung auf 24 Teams hat diese EM europäische Teilhabe von bisher ausgeschlossenen Fußballgesellschaften hergestellt. Der Preis ist, dass das Turnier die Fußballmoderne nicht definiert. Um es mal freundlich zu sagen.
Es gab aber auch großartige Spiele. Eines war das 2:0 von Contes Italien über Spanien. Und das andere war das deutsche 1:1 gegen Italien. Es war der Höhepunkt von Löws Schaffen. Eine dermaßen reife Leistung hätte man dem Team nicht zugetraut. Anders als gegen Frankreich dominierten die Deutschen die Italiener strategisch auf der ganzen Linie und agierten makellos.
Da war wirklich alles am richtigen Platz. Abgesehen von Boatengs Hand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen