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Wendepunkt Dallas

Essay Nicht der Rassismus – die ungleiche Verteilung von Chancen und Ressourcen ist die größte Herausforderung für Gesellschaft und Politik in den Vereinigten Staaten

Ungleiches Kräfteverhältnis: Festnahme bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt in Baton Rouge, Louisiana Foto: Jonathan Bachman/reuters

von Anjana Shrivastava

Wenn Donald Trump nicht mehr trompetet, sondern plötzlich versöhnliche Töne anschlägt, dann ist äußerste Vorsicht geboten. Und wenn dann auch noch der potenzielle Vizepräsidentschaftskandidat Newt Gingrich, Galionsfigur der amerikanischen Rechten, darüber schwadroniert, wie unvorstellbar schwer es ist, in Amerika eine schwarze Haut zu tragen, ist noch mehr Misstrauen angebracht.

Die ungewohnt emphatischen Äußerungen republikanischer Spitzenpolitiker nach der Katastrophe von Dallas entspringen einem kolossal schlechten Gewissen. Bei Trump, Gingrich und anderen grassiert die Angst, einen gesellschaftlichen Zerfallsprozess ausgelöst zu haben, der eine halbwegs funktionierende multikulturelle Gesellschaft in eine ethnisch bitter verfeindete Gesellschaft verwandelt. Demonstrationen können jederzeit in Straßenkämpfe umschlagen, Mord wird zum politischen Mittel, Politik, Gewalt und Hass vermengen sich unauflöslich.

Es herrscht Eskalation, nicht Ausgleich oder Kompromiss. Trump und Gingrich wollen ins Weiße Haus – und sagen und tun dabei, was sie in ihren Augen sagen und tun müssen. Doch schon werden sie aus den eigenen Reihen kritisiert: Ihre versöhnlichen Worte seien unangemessen, die gefallenen Polizisten von Dallas würden nicht adäquat verteidigt.

Ebenfalls angegriffen wird die linke Kritik, dass die Polizei immer wieder unschuldige schwarze Männer auf den Straßen Amerikas erschießt. Diese Kritik wird vor allem von der Bewegung „Black Lives Matter“ formuliert. Sie dominiert in den Straßen und ist eine mächtige Lobby in der demokratischen Partei.

Vor seinem Tod gab Micah Johnson, der schwarze Schütze von Dallas, bekannt, dass ihn diese Bürgerbewegung, die seit zwei Jahren immer stärker wird, zu seiner Tat motiviert habe. Spätestens jetzt kritisieren konservative Amerikaner, dass „Black Lives Matter“-Aktivisten – mit ihrer Fixierung auf die Polizei in den Brennpunkten amerikanischer Städte – die Polizisten im Endeffekt zu Sündenböcken machten. Sündenböcke für gesellschaftliche Verhältnisse, die von Polizisten zwar verwaltet, aber in der Regel kaum persönlich verursacht werden.

Parallel zu der Bürgerbewegung hat die Obama-Regierung nach der Erschießung von Michael Brown in Ferguson, Missouri, vor zwei Jahren, eine Erhebung über das Verhalten der Polizei in Auftrag gegeben und einen Bericht veröffentlicht. Ebenso wie „Black Lives Matter“ rückt auch die Regierung das Polizeiverhalten ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Diese Fokussierung ist bei Weitem zu selektiv und oberflächlich, und somit tatsächlich Teil des Pro­blems und nicht nur der Lösung.

Wenn Präsident Obama jetzt nach Dallas fährt, besucht er eine von nur 15 Städten, die seine Empfehlungen für Community Policing unterschrieben haben. 15 von 18.000 Polizeibezirken. Aber diese Empfehlungen haben auch in Dallas nichts genutzt, weil sie den Kern des Problems nicht treffen. Denn das Verhalten der Polizei ist oft allenfalls Symptom der Pro­bleme und weniger die Ursache.

Die Dimensionen der Pro­bleme des schwarzen Amerika sind überwältigend. Über das erste lange Wochenende dieses Sommers wurden in Chicago 64 schwarze Menschen angeschossen, 6 davon starben. Nicht durch Polizisten – durch andere schwarze Bürgern. Die Innenstädte Amerikas sind Kriegszonen geworden, nicht umsonst heißt Chicago im Volksmund „Chiraq“.

Amerikas Konservative kritisieren Barack Obama sowie Hillary Clinton, die enge Bindungen zu Chicago haben, dafür, dass sie nicht mehr über diese Epidemie schwarzer Gewalt reden. Lieber sprechen Demokraten von der von den Konservativen herbeigezwungene Waffenschwemme. Doch die Ursachen der Gewalt liegen tiefer als in der leichten Zugänglichkeit zu Waffen. Auch hier, wie so oft, ist die amerikanische Debatte von gegenseitigen Schuldzuweisungen geprägt.

Der schwarze Durchschnittshaushalt verlor zwischen 2005 und 2010 ganze 59 Prozent des Vermögens, der weiße nur 18 Prozent

Nicht nur die schwarze Unterschicht hat gravierende Probleme. Nach der Bankenkrise gibt es immer weniger öffentliche Stellen, die bisher für die schwarze Mittelschicht so wichtig waren; auch die damit verbundenen guten Renten sind in der Krise unsicher geworden. Der schwarze Durchschnittshaushalt verlor zwischen 2005 und 2010 ganze 59 Prozent des Vermögens, der weiße nur 18 Prozent. Der Fortschritt von Jahrzehnten wurde durch den Finanzcrash vernichtet.

Es ist vielleicht reiner Zufall, aber zweifelsohne symbolisch, dass der Schütze von Dallas, ­Micah Johnson, eben kein von Polizisten misshandelter Armer aus der Innenstadt war, sondern ein Amokläufer und Waffennarr aus einem gepflegten Mittelschichtsvorort, der seine Identität als hochstilisierter Black Nationalist betonen wollte. Überhaupt ist es nicht von der Hand zu weisen, dass eher privilegierte Schwarze ihre schwarze Identität durch diese Bürgerbewegung kundtun wollen – ohne dabei die soziale Spaltung der US-Gesellschaft in Klassen anzusprechen. Das Problem in den USA ist nicht der Rassismus gegen einzelne Schwarze, sondern die Unfähigkeit der Gesellschaft, kollektive Lösungen für Durchschnittsbürger zu schaffen, etwa in der Immobilienkrise.

Sowohl der demokratische Sozialist Bernie Sanders als auch Hillary Clinton haben in den letzten Monaten immer wieder auf diesen Klassenaspekt hingewiesen – und wurden dafür von AktivistInnen von „Black Lives Matter“ öffentlich gescholten. Wenn Trump von Einheit redet, obwohl er eigentlich vor allem spaltet, müssen sich linke Bewegungen, die eine Politik der Identität so sehr ins Zentrum rücken, auch diese Frage gelegentlich stellen: Ist Amerikas Pro­blem vorwiegend Rassismus? Oder geht es um die Verteilung von Chancen und Ressourcen?

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Dallas einen Wendepunkt darstellen wird. Entweder wird das Land jetzt an einem Strang ziehen, um den Millionen Vergessenen wieder echte Hoffnung zu geben; oder die Verzweifelten und die Polizei werden immer stärker gegeneinander aufgehetzt – mit den unvermeidbaren Konsequenzen. Dann wären die Ereignisse von Dallas nur das Signal zum endgültigen Kontrollverlust. Zum Glück stirbt die Hoffnung zuletzt.

Anjana Shrivastava ist eine US-Journalistin in Berlin. Sie schreibt unter anderem für das „Wall Street Journal Europe“

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