Kolumne Gott und die Welt: Erdoğans Verschwörung
Wesentliche Persönlichkeiten der späteren türkischen Republik sollen Freimaurer gewesen sein. Kein Grund, gleich Verschwörungstheorien zu verfallen.
W er wissen will, wes Geistes Kind der antisemitische AfD-Abgeordnete im Stuttgarter Landtag, Wolfgang Gedeon, ist, muss einen näheren Blick auf den gegenwärtigen türkischen Premier Erdogan werfen – was freilich auch umgekehrt gilt.
Des türkischen Ministerpräsidenten Erdogans Bemerkung, dass sich jene Abgeordneten türkischer Herkunft, die der Armenienresolution des Deutschen Bundestags zugestimmt haben, einem Bluttest unterziehen sollen, blieb hierzulande eigentümlich resonanzlos – stellte sie doch nicht weniger dar als eine Form von reinem, unverfälschtem Rassismus. Das Presseecho begnügte sich mit Hinweisen auf die „Absurdität“ dieser Forderung.
Dabei ist Erdogan in dieser Hinsicht alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. So berichtete der Spiegel bereits in der Ausgabe 19/2012, dass Erdogan in den Jahren 1977 bis 1980 gemeinsam mit anderen politischen Weggefährten ein Theaterstück mit Namen „Mas-Kom-Yah“ aufgeführt hat. Er habe es verfasst und soll auch selbst Regie geführt haben. „Mas-Kom-Yah“ aber sind Abkürzungen für „Freimaurer-Kommunisten-Juden“.
Wikipedia gibt den Inhalt des Stücks so wieder: „Der nicht religiöse Fabrikant Ayhan Bey schickt seinen Sohn zur Ausbildung ins Ausland. Jahre danach kehrt dieser, vom muslimischen Glauben abgefallen, zurück in die Türkei. Daraufhin entzweien sich Ayhan Bey und sein Sohn.
Ein unbeachtetes Kapitel der Geschichte
Zur selben Zeit begehren die Arbeiter des Fabrikanten auf und übernehmen den Besitz Ayhan Beys. Dabei wurden sie von einem sich als türkischer Muslim ausgebenden jüdischen Arbeiter aufgewiegelt. Weiter wiegelt der im Stück als äußerst bösartig dargestellte Aufstandsanführer seine Kollegen zum Mord an Ayhan Bey auf.“
Tatsächlich stellt das Verhältnis der Freimaurerei zur Türkei ein bisher noch wenig beachtetes Kapitel ihrer jüngeren, osmanischen und nationaltürkischen Geschichte dar: Sollen doch wesentliche Persönlichkeiten der späteren türkischen Republik, etwa der rassistisch, wenngleich ansonsten modern argumentierende Soziologe Ziya Gökalp, aber auch der Gründer der türkischen Republik, Kemal Pascha, Freimaurer gewesen sein. Auch ein reformbereiter Sultan, der nach nur 93 Tagen abgesetzte Murat V., Bruder des letzten Sultans Abdulhamid II., war Freimaurer, ebenso wie der 1922 in Berlin erschossene Talaat Pascha, einer der Mitverantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern.
1998 hatte Erdogan eine zehnmonatige Haftstrafe zu verbüßen, weil er als Bürgermeister von Istanbul ein ultranationalistisches Gedicht öffentlich rezitiert hatte. Die beanstandeten Zeilen lauteten: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Kuppeln unsere Helme, die Minarette unsere Bajonette und die Gläubigen unsere Soldaten.“
„Protokolle der Weisen von Zion“
Autor dieser Zeilen, der oben erwähnte Ziya Gökalp, war jedoch alles andere als ein Islamist, sondern einer der Mitbegründer des sogenannten Turanismus, einer Ideologie, die auf eine politische Vereinigung all jener Ethnien zielt, die im weitesten Sinne eine Turksprache sprechen: vom Finnougrischen über das Ungarische bis zu den Sprachen der Völker Zentralasiens in Turkmenistan und Aserbaidschan.
Darf man, soll man Erdogan unterstellen, dass er auch weiterhin in diesen Kategorien denkt und etwa auch so handelt? Hier ist Vorsicht geboten: Vorsicht davor, dass man Hinweisen auf verschwörungstheoretische Ideologien nicht so weit folgt, dass man Ende selbst einer Verschwörungstheorie aufsitzt. So richtig es ist, dass es Verschwörungen gibt oder gab, so falsch ist doch auch jede Verschwörungstheorie.
Weder ist das Osmanische Reich zusammengebrochen, weil dieser oder jener türkische Intellektuelle der Jahrhundertwende Freimaurer war, noch haben – wie der AfD-Abgeordnete im Stuttgarter Landtag, Gedeon, behauptet – die „Protokolle der Weisen von Zion“ auch nur den geringsten Wahrheitsgehalt.
Vertreter von Verschwörungstheorien offenbaren eine Form querulatorischer Denkfaulheit, deren Gewinn darin besteht, komplexe gesellschaftlich-historische Zusammenhänge auf ebenso übersichtliche wie oberflächlich faszinierende Absichten zu reduzieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Die Regierungskrise der Ampel
Schnelle Neuwahlen sind besser für alle
Israelische Fans angegriffen
Gewalt in Amsterdam
Angriffe auf israelische Fans
Sie dachten, sie führen zum Fußball
+++ Nach dem Ende der Ampel +++
Habeck hat Bock
Habecks Bewerbungsvideo
Kanzler-Era
Trumps Wahlsieg und Minderheiten
So wie der Rest