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Kommentar Anti-Brexit-DemonstrationenDaumen hoch statt Kreuzchen machen

Ralf Sotscheck
Kommentar von Ralf Sotscheck

Hätte das Referendum auf Facebook stattgefunden, hätte „Remain“ genügend Likes bekommen. Jetzt sollten alle das Beste aus der Situation machen.

Viele junge Engländer sind gegen den Brexit, beteiligten sich aber nicht am Referendum Foto: dpa

M ehr als 40.000 Menschen haben am Samstag in London gegen das Ergebnis des Brexit-Referendums demonstriert. Mehr als 4 Millionen Menschen unterzeichneten eine Onlinepetition, mit der sie die Wiederholung der Volksabstimmung fordern. Es sind vor allem junge Leute, die den Alten vorwerfen, dass sie ihnen mit ihrem Votum für den Austritt aus der EU die Zukunft verdorben haben.

Sie hätten sich vor dem Volksentscheid an die Geschichte des gläubigen Christen erinnern sollen, der Abend für Abend betet, Gott möge ihm einen Lottogewinn bescheren. Irgendwann wird es Gott zu bunt, und er antwortet: „Gib mir eine Chance. Kauf einen Lottoschein.“ Auf das Brexit-Referendum übertragen, heißt das, die jungen Leute hätten das ihnen unangenehme Ergebnis verhindern können, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, ihre Stimme abzugeben.

73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen haben für den Verbleib in der EU gestimmt. Laut einer Untersuchung der London School of Economics hat fast die Hälfte dieser Altersgruppe bei der Verkündung des Ergebnisses geweint. Das sind beeindruckende Zahlen. Aber nur 36 Prozent dieser Altersgruppe haben überhaupt gewählt – im Gegensatz zu 83 Prozent der über 65-Jährigen. War es Faulheit? Immerhin gab es 41.000 Wahllokale, mehr als in den USA. Und wem es trotzdem zu umständlich war, hätte an der Briefwahl teilnehmen können.

Warum haben sie es nicht getan? Befragungen deuten darauf hin, dass viele junge Leute das Wahlverfahren für anachronistisch halten. Mit einem Stift ein Kreuz auf einem Blatt Papier machen? Und manche wussten offenbar gar nicht, dass es überhaupt noch eine Briefpost gibt. Vielleicht hätte man das Referendum über Facebook aufziehen sollen. Dann hätte die EU genügend „Likes“ für den britischen Verbleib bekommen.

Mit einem Stift ein Kreuz auf einem Blatt Papier machen? Befragungen deuten darauf hin, dass viele junge Leute das Wahlverfahren für anachronistisch halten

Natürlich kann man das Volk erneut an die Wahlurne bitten. In Irland haben die Politiker es ja bei zwei Referenden über EU-Verträge auch getan, weil ihnen das Nein nicht gepasst hatte. Mit einer Wiederholung der Brexit-Abstimmung würde die EU allerdings den letzten Rest demokratischer Glaubwürdigkeit verlieren. Die britische Anti-Brexit-Bewegung muss mit dem Ergebnis leben und das Beste daraus machen. Es wäre ein Anfang, sich dem rapide ausbreitenden Rassismus entgegenzustellen.

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Ralf Sotscheck
Korrespondent Irland/GB
Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net
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27 Kommentare

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  • Eieiei. Die Generation "what´s app".

     

    "Laut einer Untersuchung der London School of Economics hat fast die Hälfte dieser Altersgruppe bei der Verkündung des Ergebnisses geweint."

     

    Wie wurde das denn "untersucht"? Mittels Proben von Tränenrückständen auf den Wangen der unter 30-jährigen an der Börse?

  • "Es sind vor allem junge Leute, die den Alten vorwerfen, dass sie ihnen mit ihrem Votum für den Austritt aus der EU die Zukunft verdorben haben."

     

    Velleicht sollten diese jungen Leute zuerst mal lernen, dass demokratische Abstimmungen Teilnahme erfordern. Und zwar dann, wenn abgestimmt wird und nicht hinterher auf Facebook.

     

    Meiner Einschätzung nach verderben sich Leute, die so ignorant agieren, ihre Zukunft schon selber.

  • Da haben eine Menge Leute wohl den Isolationismus ihrer Landsleute unterschätzt und nicht ernst genommen.

  • Ralf Sotschek, Taz,

    obwohl ich regelmäßige "Gardian"leserin bin, hat mich erst die Antwort des "Flaneur" auf diesen Artikel aufmerksam gemacht.

    --70% der 18-24 Jährigen haben beim Referendum gewählt, davon ebenfalls 70% für einen Verbleib in der EU.--

    Und das ganze in Zusammenhang mit einer Statistik Studie über

    GFÜHLE !,

    Boah, 'was für ein Thema

    Ralf Sotschek, da Sie sich ja inzwischen auch als politischer Berichterstatter bisher gut profilieren, bin ich tatsächlich etwas verblüfft/enttäuscht/genervt, daß auch Sie diese Tatsache weder mitbekommen noch mitgeteilt haben. Schade und Sch**sse.

    TAZ -bring es doch gross 'raus, dann kriegst Du das (gar nicht faule und uninformierte) Jungvolk und wir alle können daran arbeiten/darüber nachdenken, wie wir die (gar nicht so zu unrecht) existenzängstlich FÜHLENDEN mittel- und alten nationalistischen Säcke wieder in unser aller soziales Boot kriegen.

    So ganz spontan und emotional plädiere ich für "Ballast abwerfen", Schäuble, Merkel, Junker et.al. usw. usf...Das ist nur eine kleine Randunwichtigkeit von mir,

     

    was ich aber wirklich interessant und erforschenswert halte --die GEFÜHLE.

     

    Wie macht man aus diesen aggressiven, ängstlichen, bildungs- und empathiefernen Schwachköpfen erträgliche Mitmenschen ?

     

    Und jetzt muss auch noch Deix (mit/nach vielen.

    dieses Jahr) den Löffel abgeben...

    So'n Dreck.

    Immerhin gibt's dafür dadurch gerade viele Bilder...

     

    Schreiben hat wirklich 'was therapeutisches... und dieser Erguß von mir erfordert keinerlei "Antwort". Ich danke nur für diesen Raum, den ich zu genau diesem Zeitpunkt nutzen konnte/durfte.

     

    Watt freu' mich auf die "Kommentare.

    HARHARHAR

    • 5G
      571 (Profil gelöscht)
      @Isolde:

      "obwohl ich regelmäßige "Gardian"leserin bin"

       

      Scheint irgendeine Fachzeitschrift zu sein?

      Harharhar...

  • Für mich ist entscheidend das "warum "so gewählt wurde.

     

    Um es krass zusagen:"alte,kranke und arbeitslose" ab in der Tonne damit.

     

    So in etwa wird die Zukunft aussehen wenn nichts passiert das ist das was diese Menschen beschäftig und sollte auch ernst genommen werden.

    • 6G
      6474 (Profil gelöscht)
      @ulf hansen:

      die kritik an den jungen, alten, reichen, armen dummen die sich selbst schaden usw. ist zwar gerechtfertigt, aber letztlich war diese wahl auch wahnsinnig unattraktiv.

       

      eine wahl für einen rechtspopulisten wie nigel farage oder für eu-büroktaten wie juncker, schulz und merkel,hm....

      klar hätte man jetzt sein kreuzchen auch für die EU machen können, wahrscheinlich hätte ich es getan.

      ich habe auch einmal in meinem leben schröder gewählt um stoiber als bundeskanzler zu verhindern, aber gut angefühlt hat sich das nicht.

       

      klar, jetzt schießen sich wieder die ganzen alten Ü50er auf die facebook-generation ein, teilweise ja auch zu recht, so lange sie nicht übersehen das es ihre altersgenossen waren die für den rechtspopulismus gestimmt haben.

       

      ich könnte jetzt als 32 jähriger auch mit plattitüden um mich werfen, über die alten die ihre schreibmaschine vermissen, weil sie dieses gerät noch verstanden haben.

       

      hallo generation-schrebergarten, generation-gartenzaun, generation-sonntagsautoputzer, generation-kirchengänger, generation-nichtsveränderer, generation-konservativ, generation-ichwarlinksundbinheuterechtersozialdemokrat....

      • @6474 (Profil gelöscht):

        Mit 32 gehören Sie also bereits jener schon nicht mehr so ganz jungen Generation an, die nach Einschätzung von Soziologen und Historikern so angepasst ist, wie keine Generation vor ihr war.

      • @6474 (Profil gelöscht):

        Auch Sie gehören bald der bürgerlichen Generation an.

  • Eine Freudin von mir aus Deutschland, die seit 10 Jahren in London lebt, meint der Grund für die geringe Wahlbeteiligung unter den jungen hänge mit dem sehr hohen Migrantenanteil in dieser Gruppe zusammen.

    Sehr viele dieser Leute seien zwar britische Staatsbürger, wären aber nicht wirklich angekommen in der britischen Gesellschaft, sondern leben in ihren Parallelgesellschaften. Die interessieren sich nicht für solche Dinge.

     

    Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es klingt plausibel.

    • 7G
      74450 (Profil gelöscht)
      @Wurstkowski:

      Die Frage ist, warum klingt das für Sie plausibel?

      • @74450 (Profil gelöscht):

        Weil das auch bei uns so ist.

         

        Siehe S. 5f.

        https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/WorkingPapers/wp46-politische-einstellungen-und-partizipation-migranten.pdf?__blob=publicationFile

         

        Und da die Paralellgesellschaften in GB noch etwas krasser sind als bei uns, klingt es für mich plausibel.

        • 7G
          74450 (Profil gelöscht)
          @Wurstkowski:

          Wenn Sie dieses Dokument als Bestätigung der These, es würde in Deutschland sog. Parallelgesellschaften geben, nehmen, muss ich Sie als arg voreingenommen bezeichnen. In der gesamten Studie kommt der Begriff nicht ein einziges Mal vor.

           

          Vielmehr steht bei den Ergebnissen folgendes:

           

          "Die Befunde zu nicht-elektoralen Partizipationsformen können die bestehende Annahme, dass Personen mit Migrationshintergrund weniger am politischen Leben teilhaben als Personen ohne Migrationshintergrund, nur teilweise bestätigen."

           

          "Das Muster der Parteiidentifikation ist bei Personen mit und ohne Migrationshintergrund vergleichbar."

           

          "Zwischen Personen ohne Migrationshintergrund und Personen der zweiten Zuwanderergeneration bestehen jedoch kaum Unterschiede, wenn letztere die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer steigt das Bewusstsein der selbst zugewanderten Personen für politische Belange." (alles auf Seite 5 und 6)

  • Anders ausgedrückt:

     

    EU-Befürworter sind zu doof, um zu wissen, dass Facebook nicht die Realität ist.

     

    Dann überlassen wir die EU mal Facebook und die intelligenten Menschen verlassen diesen Sauhaufen.

  • Ja es ist halt so mühsam wählen zu gehen. Man muss doch tatsächlich eine halbe Stunde Zeit investieren, ein kompliziertes Kreuzchen setzen und dann auch noch mit dem Ergebnis leben. Wie soll man da als Nintendo-Demokrat nicht verzweifeln? Sogar die Briefwahl wird über die Schneckenpost abgewickelt, das kann man doch niemanden zumuten.

  • So kann’s gehen, wenn man das Volk abstimmen lässt, aber die vorausgehende Meinungsbildung den Populisten von links und rechts überlässt. Diese hatten mit dem Abstimmungsergebnis ihr Ziel erreicht. Für alles Weitere fühlen sie sich nicht zuständig und kneifen lieber, statt Verantwortung zu übernehmen (Boris Johnson).

     

    Hoffentlich lernt vor allem das Volk daraus, denn Demos DANACH sind für die Katz‘!

  • "Mehr als 4 Millionen Menschen unterzeichneten eine Onlinepetition...."

    Menschen? Nö, die meisten Stimmen kamen wohl von den Bots von 4chan.

    "Laut einer Untersuchung der London School of Economics hat fast die Hälfte dieser Altersgruppe bei der Verkündung des Ergebnisses geweint."

    Klingt für mich völlig unglaubhaft. So weinerlich sind die bestimmt nicht.

  • Na ja, würde die Bundestagswahl auf Facebook stattfinden, hätte die AfD die absolute Mehrheit im Bundestag. Von daher.....nö! Wer nicht wählen geht - sei's nun weil zu faul oder zu blöd - hat halt Pech. Deal with it.

  • Wenn ich das so lese, ist es ja in jeder Hinsicht vorteilhaft, das Referendum zu wiederholen: Die EU ist endlich da wo sie hingehört und macht Platz für ein besseres Europa, die Rassisten bekommen wieder einen Dämpfer und die Partygänger auf Englands Strassen lernen, daß ne Demo hinterher nichts nützt, wenn man vorher zu blöd war - sieben auf einen Streich!

  • Beklemmend, ja, nur: Stimmt es überhaupt? Die 36% stammen aus einer älteren und methodisch wohl fragwürdigen Studie. Die neuere und aufwändigere Untersuchung der London School of Economics, die der Autor hier selbst zitiert, kommt dagegen zu dem Schluss, dass 70% der 18-24-Jährigen abstimmen gegangen sind - etwa so viel wie auch auf die Gesamtbevölkerung gerechnet. Aber natürlich ist die alte Zahl viel clickogener, da sie ins Bild der apathischen, Facebook-zentrierten Millenials passt.

    • @Flâneur solitaire:

      Lieber Flaneur,

      ich kann die vón Ihnen hier angeführte Statisk (70% der 18-24 Jährigen seien wählen gegangen) weder finden noch aus dem Kontext hier erschliessen. Wo haben Sie die her ?

      "Clickogen" - prima Ausdruck . Sofort in meine "-ogen" Sammlung aufgenommen.

      Danke

      • @Isolde:

        "ogen"-Sammlung¿!

        Nee ok - geht klar & sowieso!

        Eens von den ogen riskier ik - wa!

      • @Isolde:

        Hallo Isolde, aus einem Guardian-Artikel von vorgestern ("Poll reveals young remain voters reduced to tears by Brexit result"), der etwas ausführlicher auf die Ergebnisse der neuen LSE-Erhebung eingeht und auch mit deren Machern spricht. Die kommen eindeutig zu dem Schluss, dass die früheren Ergebnisse (36%) für die jüngste Wählerkohorte nicht seriös waren: "we found that the likely turnout of 18- to 24-year-olds was 70% – just 2.5% below the national average – and 67% for 25- to 29-year-olds."

        • @Flâneur solitaire:

          Besten Dank

  • Ja ist viel einfacher drüber zu schimpfen die Rentner hätten Entscheidungen gefällt die sie nicht mehr durchleben müssten.

     

    Doof nur, daß es idR die älteren sind die gelernt haben Verantwortung zu übernehmen. Die Jugend war zu faul zum abstimmen, also muss sie damit leben, wenn andere es für sie tun.

  • 5G
    571 (Profil gelöscht)

    Der Kopf kann durch nichts ersetzt werden.

    Daher: Shit happens.

    • @571 (Profil gelöscht):

      Genau das glauben aber inzwischen viele Menschen und verhalten sich auch so.