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Debatte TeilhabegesetzSpielräume für das Glück

Barbara Dribbusch
Kommentar von Barbara Dribbusch

Schwerstbehinderte brauchen die Hilfe anderer, um eigenständig zu sein. Diesem Paradox muss sich der Sozialstaat stellen.

Das Gesetz betrifft 750.000 Menschen, die „wesentliche“ Behinderungen haben Foto: Imago/Reporters

D er jüdische Psychiater Viktor Frankl, KZ-Überlebender, hat in seinem Leben zur Resilienz geforscht. Das ist die Widerstandskraft, die Menschen in fast ausweglosen Situationen entwickeln, um zu überleben. Ihn beschäftigte die Frage, warum von den KZ-Insassen, die nicht sofort ermordet wurden, manche den Aufenthalt im Konzentrationslager überstanden, andere aber rasch zugrunde gingen.

Frankl kam zu dem Schluss, dass man auch in der eingeschränktesten Situation noch Handlungsmöglichkeiten haben muss, sei es für Freundschaftsdienste oder ein bisschen schwarzen Humor. Und dass man einen Sinn in der eigenen Existenz sehen muss, trotz des Leidens. Nur dann spürt man innere Autonomie und Kraft, die wichtig sind für das Überleben.

Frankl wird in der Behindertenszene verehrt, denn die Frage der Selbstbestimmung ist zentral auch für Menschen mit Handicaps, die kein Mitleid brauchen, sondern ein Recht auf Handlung und Lebenssinn wie andere auch. Doch wer körperlich sehr behindert ist, lebt in einem Paradoxon: Er braucht andere, um selbst handeln und entscheiden zu können.

Dieses Paradox, angewiesen zu sein auf andere, um eigene Handlungsfreiheit zu erlangen, stellt unsere gängigen Werte von Selbstverantwortung auf den Kopf. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum Nichtbehinderte das Thema meiden. In diesem Spannungsfeld steht das Bundesteilhabegesetz für Behinderte, dessen Entwurf im Juni im Bundeskabinett beschlossen werden soll.

Eingliederungshilfe kostet 15 Milliarden im Jahr

Das Gesetz betrifft vor allem 750.000 Menschen, die „wesentliche“ Behinderungen haben und in ihrer Teilhabe schwer eingeschränkt sind. Sie bekommen die sogenannte Eingliederungshilfe, das sind Assistenzleistungen bei der Arbeit und in der Freizeit. Viele der stark eingeschränkten Rollstuhlfahrer sind außerdem auf Hilfe zur Pflege in der Wohnung angewiesen.

Der Deutsche Landkreistag rechnet vor, dass die Eingliederungshilfe die Kommunen jetzt schon rund 15 Milliarden Euro im Jahr kostet und das Gesetz diese Kosten in die Höhe treiben könnte, weil es Ansprüche ausweite. Die Behindertenverbände befürchten einigen Verbesserungen zum Trotz neue Verschlechterungen.

Dabei geht es um Paragrafen, die den Kommunen erlauben, die „Angemessenheit“ der Kosten für Assistenzleistungen infrage zu stellen und Assistenzleistungen zu „poolen“, also zusammenzulegen, um etwa von einem Helfer mehrere Behinderte betreuen zu lassen. Durch das „Poolen“ stünde bei ambulant Betreuten nicht immer ein Assistent für einen Rollstuhlfahrer allein zu Verfügung. Eine finanziell klamme Gemeinde könnte zudem fordern, dass Schwerstbehinderte in Wohngemeinschaften zusammenziehen, um Personalkosten bei der Betreuung zu sparen, argumentieren die Betroffenenverbände. Die ambulante Rund-um-die-Uhr-Betreuung eines allein lebenden schwerst eingeschränkten Rollstuhlfahrers mit mehreren Assistenten im Schichtdienst kann 10.000 Euro im Monat und mehr kosten.

Existenzielle Ängste

Einkommen und Vermögen auch eines Ehe- und Lebenspartners sollen weiterhin auf Sozialleistungen angerechnet werden, wenn die Betroffenen im häuslichen Bereich Hilfe zur Pflege bekommen, auch das rügen die Sozialverbände. In den sozialen Netzwerken melden sich aber Hartz-IV-Empfänger kritisch zu Wort: Auch bei ihnen werde Einkommen und Vermögen auf die Sozialleistung angerechnet. Man ahnt, dass es Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) niemandem wird recht machen können.

Der Protest ist erheblich. Einige Dutzend Rollifahrer ließen sich unlängst von ihren AssistentInnen demonstrativ eine Nacht vor dem Reichstag anketten. Eine Tagung der SPD wurde von massiven Pfeifkonzerten und Buhrufen begleitet. Zu einer Veranstaltung der Grünen kamen hunderte Betroffene mit ihren AssistentInnen oder Angehörigen. Man konnte die Wut und Angst im Raum spüren. Für Schwerstbehinderte, die teilweise weder Beine noch Arme bewegen können, und für ihre Familienangehörigen weckt jede Aussicht auf einen Verlust an Assistenzleistungen existenzielle Ängste.

Denn sie haben keine Alternative, die Angehörigen sind am Ende ihrer Kraft. Ein solcher Verlust bedeutete, wieder gefangen zu sein im eigenen Körper, nicht selbständig zu leben, nicht studieren, nicht arbeiten, sich nicht in der Öffentlichkeit bewegen zu können. Nur so kann man den bitteren Ton vieler Betroffener verstehen, wenn über die Schwächen des Gesetzes öffentlich diskutiert wird.

Zugeständnisse von allen

Oft wird dabei auf die UN-Behindertenrechtskonvention verwiesen, 2009 auch von der Bundesregierung ratifiziert. Danach soll die Gesellschaft Behinderten eine „gleichberechtigte“ Teilnahme am beruflichen und kulturellen Leben ermöglichen. Als Ziel ist das richtig, die Wahrheit aber lautet auch: Niemals können soziale Dienstleistungen durch andere die Nachteile, die existenzielle Besonderheit einer schweren, meist schicksalsbedingten Behinderung wirklich ausgleichen.

Die Solidargesellschaft kann nur einen größtmöglichen Spielraum für Lernen, Arbeiten, für Freundschaft, Liebe und Glück herstellen. Dabei muss es Zugeständnisse geben, von allen Seiten. Der Versuch des „Poolens“ von Assistenzleistungen, das Koordinieren von Hilfen, sollte nicht von vornherein verdammt werden. Die Betroffenen müssen dabei aber ein Mitentscheidungsrecht haben. Dies sieht das Gesetz bis jetzt nicht vor.

Es ist auch in Ordnung, dass Einkommen und Vermögen der Betroffenen nicht vollständig freigestellt werden von jeglicher Anrechnung auf die Hilfen. Aber Partner, die oft schon sehr viel unbezahlt tun für ihre behinderten Lebensgefährten, sollten mit ihrem Vermögen oder ihrem Erbe nicht mehr in Mithaftung genommen werden für die Kosten der Hilfe zur Pflege. Das ist eine Beziehungsblockade.

Eine Behinderung kann jeden treffen, und tief im Innern wissen das auch Nichtbehinderte. Die Ermöglichungspolitik für Menschen mit schweren Einschränkungen ist deshalb ein Band für alle. Und vielleicht eins der höchsten Güter, die wir im Sozialstaat haben.

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Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).
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4 Kommentare

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  • Wenn man nicht ausschließlich fiskalisch argumentieren will - das kann man natürlich - gibt es eigentlich keinen Grund, Einkommen und Vermögen der Betroffenen heranzuziehen, zumal selbst die Leistungsträger in aller Regel so freimütig sind, zuzugeben, dass ein Großteil der von den Betroffenen herangezogenen Einkommens- und Vermögensbestandteile für den schieren Verwaltungsaufwand der Beitreibung wieder verwendet werden muss.

    Mithin kann der einzige Grund der Einkommens- und Vermögensheranziehung doch nur derjenige sein, die Betroffenen bewusst in finanzieller Armut halten zu wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das der intentionale Ansatz von Fr. Dribbusch gewesen ist.

  • Zunächst einmal ein Lob an Fr. Dribbusch über die weitgehend korrekte Darstellung der Umstände, dessentwegen es eines BTHG überhaupt bedarf.

     

    Allerdings ist der Referentenentwurf - mehr liegt der Öffentlichkeit ja bislang gar nicht vor - weitgehend missglückt, eben weil er weiterhin den Einsatz von Einkommen und Vermögen (unter Anhebung der Schongrenzen) des selbst betroffenen beeinträchtigten Menschen hinsichtlich der Teilhabeleistungen verlangt, weil das Vermögen auch des Lebenspartners nach wie vor herangezogen werden soll (auch Einkünfte sind ab dem zwieten Monat des Zuflusses Vermögen), weil es ein völlig unzumutbares Pooling von Leistungen geben soll, weil nach der gleichzeitig im parlamentarischen Betrieb behandelten Pflegereform der Grundsatz Eingliederungshilfe vor Pflege umgekehrt werden soll, weil es insgesamt praktisch keine Fortentwicklung der Eingliederungshilfe hin zu einem menschenrechtlich orientierten Teilhabegesetz vorsieht, wie es die UN-BRK vorschreibt.

    Man könnte der gesetzgeberisch geplante "Grausamkeiten" jetzt dutzendweise aufzählen. Alles in allem gewinnt man das Gefühl, das BMAS hat hier ein Gesetz vorgelegt, mit dem es den betroffenen behinderten Menschen die "Instrumente" zeigen will, damit man sich mit einem dann schlussendlcih verabschiedeten eher lahmen Gesetzgebungswerk zufrieden gibt, bei dem die behinderten Menschen letztlich erleichtert aufatmen, nach dem Motto: Wir haben wenigstens das Schlimmste verhindert.

    Verwirrt hat mich allerdings der Ansatz von Fr. Dribbusch, man könne durchaus weiterhin wenigstens Teile von Einkommen und Vermögen der Betroffenen heranziehen. Hier ist schlichtweg zu fragen: Warum eigentlich? Behinderung ist kein selbst verschuldetes Schicksal, sondern kann schlichtweg jede/n treffen.

  • Leider geht der Stress der theoretischen Teilhabe bei schon weit geringeren Beträgen los, die beantragt werden. Es geht immer um jeden Cent der Nichtbewilligung.

     

    Teilhabe ist in Deutschland genauso ein Papierwort wie Integration und jetzt Inklusion.

     

    Denn das alles ist nicht kostenneutral zu haben und mensch muss sich auch noch auf "andere" einstellen. Und das passt nicht in die heutige Flexibel- und Schnellzeit.

     

    Behindert und/oder Kranksein ist nach wie vor Privatsache, was mensch sich nur "leisten" kann, wenn mehr als ausreichend Geld, Geduld, Unterstützung und Liebe in der familiären Haushaltskasse ist.

     

    Im Gegensatz zu vor Jahrzehnten hat sich eigentlich nicht viel geändert, außer dass überall drauf steht, dass Teilhabe und Inklusion selbstverständlich und möglich seien.

     

    Pustekuchen, es hört auch nicht erst beim Geld auf. Gesunde und Nichtbehinderte sind auch als Kindergartenkinder und Arbeitnehmer/innen "einfacher" und "günstiger".

  • Als auf "ambulante Rund-um-die-Uhr-Betreuung (?) (angewiesener) allein lebender schwerst eingeschränkter Rollstuhlfahrer mit mehreren Assistenten" bin ich über diesen Kommentar von Frau Dribbusch entsetzt.

    Das Wort "Betreuung" zeugt von fehlendem Verständnis für das Modell der "Persönlichen Assistenz". Ich bin von Geburt an auf 'Betreuung' angewiesen und kann dennoch keine Spur von "auf den Kopf gestellter Selbstverantwortung" entdecken. Ich bin promovierter Wissenschaftler und werde demnächst (hoffentlich) meine Antrittsvorlesung als Privatdozent halten. Ich übernehme nicht nur für mich und für meine AssistentInnen Verantwortung, sondern auch für meine StudentInnen sowie meine geschätzten KollegInnen. Auch in meinem Privatleben übernehme ich Verantwortung für geliebte Menschen.

    Nur um es noch einmal klarzustellen: eine Behinderung sucht man sich nicht aus und gewöhnlich trägt man auch keinerlei Verantwortung für diesen Zustand, dennoch wird man regelmäßig von der Gesellschaft deswegen behindert. Dass ich aufgrund meiner körperlichen Situation kaum Vermögen (Werte von maximal 2400 €) besitzen und auch nur das doppelte des Hartz IV Satzes verdienen darf (jeder Euro darüber wird mir zu 40 % vom Staat als Zuzahlung für meine unabdingbare Pflege abgenommen), kann ich nicht als „in Ordnung“ empfinden.

    Meine selbst Verantwortung ist insofern auf den Kopf gestellt, dass sie mir vom Staat komplett genommen wird. Ich darf nicht eigenverantwortlich über mein Geld, mein Vermögen und meine Altersversorgung entscheiden. Das was der Staat von seinen Bürgern fordert, Eigenverantwortung, wird mir genommen.

    Ein wenig mehr Interesse am Thema, eine differenziertere Aufarbeitung und die Bereitschaft auf gängige Parolen wie das gegenseitige Ausspielen von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, Stichwort Hartz IV Empfänger gegen Schwerbehinderte, zu verzichten, hätte diesen Kommentar sicherlich gut getan.