Wanderung Im Schlick vor der Insel Nordstrand liegen noch Überreste der untergegangenen Stadt Rungholt: Wo Knochen aus dem Boden ragen
von Sven-Michael Veit
Christine Dethleffsen drängt zur Eile: „Wir müssen jetzt Strecke machen“, sagt die Wattführerin. Am Nachmittag soll ein Sturm aufziehen, Windstärke 8 ist vorhergesagt. „Das ist dann kein Spaß hier draußen“, weiß Dethleffsen. Hier draußen im schlickigen Watt westlich der Insel Nordstrand, wo einst Rungholt lag, die sagenumwobene friesische Metropole, die 1362 in der Nordsee versank. Im Sturm über Rungholt zu laufen weckt keine angenehmen Assoziationen.
Der Knochen ebenfalls nicht, der mehrere Kilometer weit draußen im Watt plötzlich aus dem Schlick ragt. Manche der 18 Wattwanderer sind irritiert, einige gucken ungläubig oder erschrocken. Fingerdick ist er, rund zehn Zentimeter lang, erinnert an einen Unterarmknochen. Eine Elle wird es sein, von einem kleinen Säugetier wahrscheinlich, vielleicht ein Kaninchen oder ein Hund.
Dethleffsen ist sich sicher, dass der Knochen Jahrhunderte alt ist und vielleicht sogar aus der Rungholt-Zeit stammt. Viele ähnliche Tierknochen von damals seien bereits gefunden und datiert worden, und außerdem, so ihr Hinweis, „hier laufen keine Tiere frei im Watt herum“. Die Vorstellung zumindest hat etwas Abenteuerliches: Der Jahrhunderte alte Knochen eines verspeisten oder ertrunkenen Karnickels taucht aus dem nordfriesischen Wattboden auf wie weiland Ötzi aus dem Gletschereis.
Oder wie der Sarg mit den sterblichen Überresten einer jungen Frau, der 1982 vor der Nachbarinsel Pellworm im Watt gefunden wurde. Untersuchungen ergaben, dass die etwa 19-Jährige an einer Kieferentzündung mit Blutvergiftung gestorben ist. Eine Sturmflut muss den Sarg vor langer Zeit von einem nahe gelegenen ehemaligen Friedhof ins Watt gespült haben, das ihn und den Leichnam Jahrhunderte später wieder freigab.
Auch zwei muschelbewachsene Backsteine, die kilometerweit vor der heutigen Küstenlinie im Schlick liegen, könnten von Rungholt stammen. Wahrscheinlich von der Kirche, „denn Kirchen waren damals hier die einzigen Gebäude aus Backsteinen“, erzählt Dethleffsen. Die Häuser bestanden aus Holzbalken und Lehmwänden, von ihnen ist kaum etwas erhalten. Aber 700 Jahre alte Ziegelsteine sind häufig zu finden hier draußen: „Wir laufen hier über Kulturland“, ruft die Wattführerin in Erinnerung.
Im Nordsee-Museum in Husum eröffnete am vorigen Wochenende die Ausstellung „Rungholt – rätselhaft und widersprüchlich“.
Zu den spektakulärsten Exponaten zählt ein nach wissenschaftlichen Maßstäben rekonstruierter Schädel eines Rungholters. Die Rechtsmedizinerin Constanze Niess aus Frankfurt/Main hat die Gesichtsnachbildung eigens für die Sonderausstellung gefertigt.
Zu den schönsten Details gehören spanisch-maurische Keramik-Krüge – ein Beweis für die Handelsbeziehungen Rungholts. Auf einem steht mit goldenen Pinselstrichen in arabischer Sprache „Viel Glück“.
Die Ausstellung ist bis zum 29. Januar 2017 zu sehen im Nordsee-Museum im Nissenhaus, Herzog-Adolf-Straße 25 (nahe dem Husumer Hauptbahnhof). Geöffnet ist sie täglich außer Montags von 10 bis 17 Uhr, vom 16. Juni bis 15. September auch Montags
Wo Wasser und Watt sich zweimal täglich abwechseln, lagen die Wiesen und Marschen des dänischen Verwaltungsbezirks Edomsharde mit seinen acht Kirchspielen, eines davon war Rungholt. Bis zu jenen verhängnisvollen drei Tagen und Nächten im Januar 1362, als die Nordsee durch die Deiche brach, Tausende Menschen tötete und wahrscheinlich noch mehr Vieh und alle Gebäude zerstörte. In das kollektive Gedächtnis an der Westküste ging sie ein als die erste „Grote Mandränke“ (großes Menschenertrinken). Die zweite „Mandränke“ folgte 1634, und diese beiden Hochwasser haben die schleswig-holsteinische Westküste neu gestaltet. Große Landflächen versanken, Inseln wurden zerstört, neue entstanden.
26 Warften sind bislang nachgewiesen worden, aufgeschüttete Erdhügel, auf denen Häuser und Scheunen vermeintlich hochwassersicher errichtet wurden wie heute noch auf den Halligen im nordfriesischen Wattenmeer. Etwa 100 Brunnen wurden entdeckt, jeder für vermutlich drei Familien, das ließe auf vielleicht 1.500 Bewohner schließen. Massive Balken zeugen von einem gewaltigen Sperrwerk im Deich, das den Rungholter Hafen schützte, „wahrscheinlich die größte Schleuse ihrer Zeit an der Nordsee“, wie Dethleffsen sagt.
Jetzt sind die Balken in der Rungholt-Ausstellung im Nordsee-Museum in Husum zu sehen, und auch Ausstellungsmacherin Tanja Brümmer geht davon aus, dass es damals kaum eine größere Schleuse an der Küste gegeben hat. Rungholt war eine Hafensiedlung und ein Handelsplatz, das ist unstrittig. Es hat, unter anderem, mit Salz gehandelt bis nach Flandern und Schweden, umstritten aber ist, ob Meersalz auch direkt vor Rungholt in größerem Umfang gewonnen wurde.
Die Hamburger Autorin und Wattführerin Cornelia Mertens sieht dafür „keine archäologischen Beweise“. Weiter nördlich, vor der Hallig Langeneß, sei in größerem Umfang Salztorf abgebaut worden, sagt sie, in Rungholt sei es nur umgeschlagen worden.
Ihre Kollegin Dethleffsen hingegen verweist auf die Torfreste im Wattboden, aus denen die Rungholter das begehrte Salz herausgesiedet hätten. Tiefe Köge unter Normalnull entstanden so, und als die tagelange Sturmflut im Januar 1362 die Deiche durchweicht hatte und sie schließlich durchbrach, konnte nichts mehr den Wellen widerstehen. „Opfer ihrer Technikgäubigkeit“ seien die Rungholter geworden, sagt auch Brümmer vom Nordsee-Museum, „die haben sich den Boden unter den Füßen weggebuddelt“, formuliert Dethleffsen prosaischer.
Nach rund fünf Stunden und 13 Kilometern Wattwanderung setzt kurz vor dem Festland der Regen ein, statt Sturm gibt es nur Wind. Glück gehabt, anders als die Rungholter.
Am nächsten Morgen um sieben Uhr ertönt vor dem Hotel auf Nordstrand mit Blick auf den Rungholtsand der Wecker: Die Baumaschinen werden angelassen, die dort auf mehreren Kilometern Länge den Deich auf 8,50 Meter erhöhen. Damit die Nachfahren der Rungholter Nachbarn sicher leben können.
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