Der letzte Auftritt von Marcel Reif: Auch guter Rotwein hält nicht ewig
Lange war Marcel Reif der einzige Feuilletonist unter den Fußball-Kommentatoren. Nun hat er sein letztes Spiel absolviert. Das ist okay so.
Was für eine Wohltat er war, damals, als seine Expertise, formuliert mit größter Gelassenheit, ohne Langeweile zu verströmen, noch mächtiger war als die aller anderen. Und mit was für einem Timbre! Marcel Reif gab einem hinter dem Kommentatorenmikro das Gefühl zurück, nicht Teil einer Community mindestens vierteldebiler und sabbernd-fanatischer Fußballfans zu sein. Reif, das war die Stimme der Schönheit des Spiels. Ein Fußballist, der Spiele lesen konnte, wie es immer so unbestimmt heißt.
Das war Anfang der neunziger Jahre. Als gelungen muss immer noch erinnert werden, dass dieser ZDF-Mann das WM-Finale von 1994 zwischen Brasilien und Italien betreute. Das tröstete über die grottige Performance der DFB-Auswahl hinweg. Reif verlor aber kein Wort des Jammers über das Fehlen des Titelverteidigers im Endspiel von Pasadena, Kalifornien.
Damals hatte die Marcelreiferisierung unter Bildungsbürgern längst begonnen. Man raunte sich unter Menschen (hauptsächlich Männern) zu, dass da einer nicht wie Rubenbauer oder Fassbender ist. So wie Letzterer schon gar nicht: ein Typ wie der viel zu bierselige Nachbar mit einer Portion Jovialität. Nein, so war dieser Kommentator nicht. Es fiel ihm aber auch leicht, sich abzuheben von seinen kommentierenden Kollegen, weil er etwas konnte, was sie nie können werden.
Weil es immer noch Spielbegleiter am Mikrofon gibt wie jenen vom MDR, dem zum Namen des Würzburger Spielers Schoppenhauer ein „berühmter Komponist aus Österreich“ einfällt, hatte es jemand wie Reif leicht. Von der Dürftigkeit, bestenfalls Mediokrität der Kollegen, hat er sich immer mit Leichtigkeit abgegrenzt. Reif, der Bildungsbürger, lief lange außerhalb des Wettbewerbs.
Erst in der Moderne des Senders Sky bekam er ernsthafte Konkurrenz und wurde mittlerweile auch überholt von Jüngeren. Der Großkommentator lief Gefahr, in die Dampfplauderliga eines Fritz von Thurn und Taxis abzusteigen. Dass er jetzt Schluss macht, ist okay. Wer will schon hören, wie ein Marcel Reif gegen den Abstieg kämpft.
Reif sprach Worte und Wendungen ins Mikro – später bei RTL, Premiere und nun seine Dernière bei Sky, als schlürfte er guten, ja, allerbesten Rotwein. Als sei er auch nie Teil des Fußballzirkus: Fußballintellektuelle liebten ihn als einen der Ihren, ein Mann, der vom hooliganesken oder dummbatzigen Pöbel des alten Publikums so fern wirkte.
Ja, gewiss er war auch manchmal wie eine Flasche Barolo vom Discounter. Er hat am Ende seiner Karriere viele Spiele mal eben so wegmoderiert, auf seine Erfahrung und seinen „Mann im Ohr“ vertrauend. Reif zehrte von diesem genialen Moment, dem „Torfall“ von Madrid 1998, als er im Duett mit Jauch Champions-League-Form erreichte.
Aus Sprachwitz wurden Floskeln
Doch er machte zuletzt Fehler, sah in der Rückrunde bei einem Bayern-Spiel Martínez auf dem Platz, obwohl Tasci in der Abwehr stand. Er war verliebt in seinen Sprachwitz, dabei bereitete er zu oft die üblichen Floskeln auf: „Wer zu spät kommt, den bestraft der Schiedsrichter.“ Solche Sachen. Zu den Funktionären des Fußballs hielt er spöttische Distanz, aber zu einer radikalen Kritik war er nicht fähig, da war er doch zu sehr Teil des Systems. Kein Wunder, dass er bei seiner letzten Kommentatur, dem Champions-League-Finale am Samstag, wieder beide Augen zudrückte: „Sagen wir heute mal nix zu Uefa, zur Fifa, genießen wir einfach mal Fußball.“
Es war nur eine Frage der Zeit, bis schließlich das Zentralorgan des guten Geschmacks, die Zeit, ihn entdeckte. Einige ihrer Autoren beschäftigten sich mit Reif – nie ohne sich mit ihm weitgehend gemein zu machen. Reif, das war Feuilleton mit Fußball. Im Februar, als bekannt wurde, dass Marcel Reif an diesem Wochenende in Mailand seinen Ausstand geben würde, schrieb das Blatt: „Ein Geschenk – kein Gequatsche.“
Nun, das war kein Todeskuss in den Augen jener, die Fußball noch immer als Knäuel aus Technik, Athletik, Schweiß, Tränen, Leidenschaft und Schmutz, als ein Drama aus Prinzip erkennen wollen. Reif war nun in die gleiche Lifestylefalle gegangen – oder wollte sie gehen – wie bei der Zeit vor sehr vielen Jahren Otto Rehhagel. Der wurde ebenfalls als Connaisseur erkannt, als ein Mann des Fußballtheaters, der sich mit Jürgen Flimm, Regisseur und Opernintendant sondergleichen, traf, um Fußball als, na klar, Theater zu identifizieren. Nun ja, so machte man den Proletensport eben den Bürgern appetitlich.
Bei Reif hat es nun ein Ende. Seine Kennerschaft hinterm Mikro schmeckte dem Publikum am Ende wie eine Weinprobe, bei der der Anlass des Weintrinkens hinter der Expertise verschwand. Der nie begriff, warum der BVB so populär und den Bayern nur selten mitfühlende Inbrunst entgegengebracht wurde. Marcel Reif ist ein Mann, dem selbst feinster Bordeaux nicht mehr zu munden schien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Resolution gegen Antisemitismus
Nicht komplex genug
Nach Ausschluss von der ILGA World
Ein sicherer Raum weniger
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben