: Gut für Familien, Fußballfans, Künstler, Geschäftsleute
Fortschritt Die EU-Kommission empfiehlt ein Ende des Visazwangs für Türken – spätestens Ende Juni. Die restriktive Visavergabe hat in den letzten Jahren viel Ärger im Verhältnis zwischen Deutschland und der türkischen Bevölkerung erregt
Im Gegenzug für die Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland hat die EU der Türkei den Fall des Visazwangs spätestens ab Ende Juni versprochen. Die EU-Kommission gab nun grünes Licht, allerdings unter einer Reihe von Bedingungen. Worum geht es dabei?
Wäre Visafreiheit für die Türkei ungewöhnlich?Nein. Hunderte Millionen Bürger aus fast 60 Staaten können längst ohne Visum in die EU einreisen. Drei der vier anderen EU-Beitrittskandidaten haben bereits Visa-Freiheit: Serbien, Montenegro und Albanien.
Was ändert sich konkret?Türkische Staatsbürger – Geschäftsreisende wie Touristen – dürften ohne Visum für Kurzaufenthalte in den Schengen-Raum aus 26 Staaten einreisen. Die Aufenthaltsdauer ist auf 90 Tage pro Halbjahr begrenzt.
Sind alle Bedingungen erfüllt? 7 von 72 Kriterien der EU-Kommission sind noch nicht erfüllt. Bei 5 muss Ankara bis Juni nachbessern: Es geht um Korruptionsbekämpfung, Datenschutz, Zusammenarbeit mit der EU-Polizeibehörde Europol und Justizkooperation bei Strafsachen. Gefordert wird auch eine Einengung des türkischen Terrorismusbegriffs. Hier verweist die Kommission unter anderem auf Festnahmen und Prozesse gegen Journalisten und Akademiker wegen terrorismusbezogener Anschuldigungen.
Sind biometrische Pässe nötig?Ja. Die Europäer akzeptieren aber bis Jahresende biometrische Pässe mit kurzer Gültigkeit, die nur den Standards der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation Icao und nicht jüngsten EU-Vorgaben entsprechen. Auf ihnen müssen neben Fotos auch Fingerabdrücke des Besitzers elektronisch gespeichert sein. Ab Oktober soll Ankara Pässe ausgeben, die auch die strengeren EU-Standards erfüllen.
Wer muss in der EU der Visafreiheit noch zustimmen?Die EU-Mitgliedstaaten mit qualifizierter und das Europaparlament mit einfacher Mehrheit. (afp/taz)
Es ist nicht nur seine Arbeit, sondern auch die Liebe zum Fußball, die ihn umtreibt: Ahmet Tan ist Fan und einer der weltweiten Unterstützer des Hamburger Clubs St. Pauli. Als er von dort eine Einladung bekam, buchte er gleich seinen Flug. Doch das deutsche Konsulat in Istanbul weigerte sich, ihm ein Visum zu erteilen. Grund: Als freier Journalist konnte er kein festes Einkommen nachweisen – und erfüllte deshalb nicht die Kriterien. Und Ahmet Tan ist kein Einzelfall. So beschieden Konsulatsmitarbeiter türkischen Schriftstellern, man kenne sie nicht. Ein Austausch zwischen deutschen und türkischen Künstlern scheiterte, weil die Bundesrepublik die türkischen Künstler nicht einreisen lassen wollte.
Was für Journalisten, Schriftsteller oder Maler vor allem ärgerlich ist, wurde für manche Unternehmer gar zu einer Existenzfrage. Die mangelnde Reisefreiheit bremste geplante Investitionen. Selbst wenn letztlich doch Visa ausgestellt wurden, kostete es immer Zeit und Geld, das den Firmen verloren ging.
Die schlimmsten Dramen aber spielen sich in Familien ab, von denen ein Teil in Deutschland und ein Teil in der Türkei lebt. Bei drei Millionen Türken oder Deutschen mit einem türkischen Migrationshintergrund kommen da einige Probleme zusammen: So können in Deutschland lebende Kinder ihre kranken Eltern nicht nach Deutschland holen, selbst wenn sie längst die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Gerade bei Familienangehörigen unterstellen die deutschen Behörden vorrangig, dass diese nach Ablauf ihres Touristenvisums nicht in die Türkei zurückkehren würden, und verweigern deshalb lieber gleich eine Reisegenehmigung. Kaum ein Thema hat im Verhältnis zwischen Deutschland und der türkischen Bevölkerung für so viel Ärger gesorgt wie die restriktive Visavergabe. Schuld daran sind weniger die deutschen Diplomaten, die vor Ort dafür geradestehen müssen, als vielmehr das Innenministerium in Berlin und die diversen Innenministerien der Länder. Hier werden die restriktiven Regeln aufgestellt, die Botschaften und Konsulate umsetzen müssen.
Für viele türkische BürgerInnen wäre die Aufhebung der Visafreiheit ein wirklicher großer Schritt der Annäherung an Europa. Allerdings ist die Skepsis groß: „Sie werden sich schon noch was einfallen lassen um uns zu quälen“, befürchtet Ahmet Tan. Außerdem findet er es schäbig, dass die Visafreiheit nun auf Kosten der Flüchtlinge kommen soll. „Ich kann mich deshalb auch nicht richtig freuen“, sagt er.
Bis die Reisefreiheit da ist, dürfte es ohnehin noch dauern: Die Türken haben noch keine biometrischen Pässe. Selbst wenn diese eingeführt sind, werden sich viele überlegen, ob sie einen beantragen. Die Ausstellung eines Passes kostet rund 200 Euro.
Jürgen Gottschlich
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