Bedingungsloses Grundeinkommen: Bürokratieabbau und Niedriglöhne
Die Stadt Helsinki will mit einem Pilotversuch das bedingungslose Grundeinkommen testen. Es gibt Kritik von links.
Die finnische Sozialversicherungsbehörde Kela hat im Auftrag der regierenden Koalition aus dem rechtsliberalen Zentrum, den Konservativen und den Wahren Finnen verschiedene Modelle ausgearbeitet und unter dem Titel „Von der Idee zum Experiment?“ vorgestellt. Spätestens im Herbst muss die Regierung entscheiden, dann könnte der Versuch 2017 starten. Angesichts der angestrengten finnischen Staatsfinanzen ist klar, dass derzeit nur das Modell Chancen auf Realisierung haben dürfte, das als „kostenneutral“ eingeschätzt wird.
Dabei handelt es sich um ein „partielles Grundeinkommen“ von 550 bis 750 Euro, das zugleich alle bisherigen Sozialleistungen ersetzt. Zunächst sollen es 1.500 bis 10.000 Personen erhalten, wobei die Auswahlkriterien noch offen sind.
Die Idee eines Grundeinkommens sei zwar, dass alle es bekommen, auch die, die arbeiten, betont Kela-Forscher Pertti Honkanen: Doch am liebsten würde man den ersten Praxistest auf 25- bis 63-jährige Sozialleistungsbeziehende beschränken. Da könne man Effekte eines Grundeinkommens beim Bürokratieabbau und „den Anreizen, eine Arbeit anzunehmen“, am ehesten testen.
„Neoliberale Mogelpackung“?
Diese Ausrichtung hat umgehend kritische Stimmen vor allem der Linken und der Grünen auf den Plan gerufen. Sie sehen darin eine „neoliberale Mogelpackung“ einer rechtsliberal-konservativen Regierung mit einer ausgeprägt unternehmerfreundlichen Schlagseite und Austeritätspolitik als primärem Ziel. Zumal diese Koalition gerade zusätzliche Verschlechterungen bei Arbeitszeit, Urlaubs- und Krankengeld sowie die Absicht, die „Gewerkschaften an die Kandare nehmen“ zu wollen, verkündet hat.
Tatsächlich würde ein Höchstniveau von 750 Euro – die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten berücksichtigt, wären das in Deutschland rund 630 Euro – beim gleichzeitigen Wegfall aller individuellen Sozialleistungen einen weiteren verkappten Sozialabbau bedeuten. Zum Vergleich: Die allen Renten Beziehenden garantierte Minimalpension liegt in Finnland derzeit bei 747 Euro. Auf die müssen keine Krankenversicherungsbeiträge gezahlt werden, zusätzliche Leistungen wie etwa Wohngeld sind möglich.
Pertti Honkanen, KELA
Das angepeilte Niveau sei zu niedrig, meint deshalb auch Jan von Gerich, Chefanalytiker der Nordea-Bank. Realistischerweise müsse ein Grundeinkommen bei mindestens 1.000 Euro liegen. Das sei aber ohne Steuererhöhungen nicht finanzierbar: Schon 550 Euro würden zusätzliche Staatsausgaben von 11 Milliarden Euro bedeuten.
Der Gewerkschaftsdachverband SAK hält das Experiment für „zu verwässert“, als dass sinnvolle Resultate zu erwarten seien. Linke und Teile der Sozialdemokraten warnen darüber hinaus, dass ein „Mini-Grundeinkommen“ den Unternehmen nur ermöglichen werde, den jetzt schon großen Niedriglohnsektor weiter auszuweiten. Der möglicherweise einzige Gewinn dieses Modells wäre ein Bürokratieabbau. Den könnte man allerdings auch einfacher erreichen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod