: Herr Putin, hier stehe ich
Protest Vor der russischen Botschaft steht Ronald Wendling ganz allein – auch im Nieselregen – und fordert die Freilassung der ukrainischen Pilotin Nadija Sawtschenko. Wendling bleibt beharrlich. Denn auch er saß schon einmal unschuldig im Gefängnis
von Marco Zschieck
Aus der Entfernung betrachtet wirkt die Szenerie etwas traurig: Der Himmel ist grau. Nieselregen legt sich wie eine leichte Decke über alles. Ein Mann in einem schwarzen Mantel steht allein zwischen drei selbst gemachten blau-gelben Flaggen. Alle paar Minuten geht er den Bürgersteig ein paar Meter entlang und zieht dabei eine Kette hinter sich her, die an seinen Handschellen befestigt ist. Um seinen Körper hat er mit einer Schnur mehrere Poster im Format A4 gebunden. Sie sind laminiert, damit sie im Regen nicht aufweichen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht die Botschaft der Russischen Föderation. Das Gebäude mit seinen Säulen und dem Turm in der Mitte sieht wuchtig aus – in Sandstein gehauener Machtanspruch. In diese Richtung hat der einsame Mann seine Botschaft ausgerichtet: „Herr Putin, wir fordern die sofortige Freilassung von Nadja Sawtschenko.“ Auf jedem der zusammengebundenen Blätter, die auf dem Grünstreifen liegen, steht ein Buchstabe.
Die Ein-Mann-Mahnwache
Der Mann im Frühlingsniesel heißt Ronald Wendling. In Berlin organisiert er die Mahnwachen zur Unterstützung der in Russland inhaftierten ukrainischen Pilotin. Aber an diesem Tag ist Wendling selbst die gesamte Mahnwache.
Eine gute Stunde zuvor ist in der kleinen südwestrussischen Stadt Donezk das Urteil gegen Sawtschenko gesprochen worden: 22 Jahre Haft. Wie in Russland üblich, folgte das Gericht der Staatsanwaltschaft, ganz egal, wie unglaublich die Anschuldigungen waren. „Das heißt, dass ich ab heute 22 Tage in Folge hierherkommen werde“, sagt Wendling – bis zum 13. April. Dass er am Tag der Urteilsverkündung vor der Botschaft protestieren werde, hatte er vorher schon auf Facebook angekündigt. „Aber bis jetzt kam nur ein älteres Ehepaar für eine halbe Stunde vorbei“, sagt er.
Doch Wendling macht keinen enttäuschten Eindruck. Lächelnd zündet er sich eine der vorbereiteten selbst gedrehten Zigaretten an. „Die Leute können nur vorbeikommen, wenn sie Zeit haben.“ Wendling hofft, dass er nach Feierabend noch Gesellschaft bekommt. Er selbst ist es schon gewöhnt, viel Zeit gegenüber der russischen Botschaft zu verbringen, hat etwas zu essen und zu trinken dabei und einen Regenschirm, der sein Gepäck schützt. „Die wöchentlichen Mahnwachen mache ich nun schon seit mehr als 70 Wochen.“ Am Anfang kamen ungefähr 30 Menschen zusammen, Deutsche und Ukrainer, auf seiner Facebookseite kann man sie auf Fotos sehen. Aber nach einigen Wochen ging das Interesse zurück.
Polizei guckt zu
Aufmerksamkeit von anderer Seite bekommt er dafür kontinuierlich: Gut 50 Meter entfernt parkt ein Polizeiauto. „Die gucken nur“, sagt Wendling. Solange er seine Banner und Fahnen nicht an Bäumen oder öffentlichen Sitzbänken anbringe, gebe es keine Probleme. Alles sei angemeldet. Auch gelegentlich auftauchende Männer, die wie zufällig im Vorbeigehen Fotos von den Gesichtern von Wendling oder seinen Mitstreitern machen, beunruhigen ihn nicht. Gespenstisch sei es allerdings gewesen, als er eines Abends auf dem Heimweg in Neukölln von einem Unbekannten angesprochen worden sei, der ihm einen Briefumschlag mit Bargeld gezeigt habe. „Wir würden uns freuen, wenn Sie ihre Kundgebung einstellen“, habe der Mann gesagt.
Aber Wendling ist hartnäckig. „Die werden mich hier nicht los“, sagt er und deutet dabei Richtung Botschaft. Der 56-Jährige hat Zeit – er ist bereits in Rente. Die Ursache dafür ist auch der Grund seiner Unterstützung für Sawtschenko: Vor mehr als zehn Jahren erlitt Wendling einen posttraumatischen Schock, von dem er sich nicht wirklich erholt hat. Er selbst war als junger Mann ein politischer Gefangener. In den 1980er Jahren saß er in der DDR in Haft.
Als Wendling 25 Jahre alt war, verweigerte er den Wehrdienst. Dafür hätte ihm damals Haft gedroht. Stattdessen versuchte er, die DDR auf dem seinerzeit legalen Weg zu verlassen, und stellte einen Ausreiseantrag. Als ihm der zuständige Beamte auch beim zweiten Besuch nicht sagen konnte, wann der Antrag denn bearbeitet würde, kündigte Wendling an, öffentlich vor dem Brandenburger Tor für sein Anliegen zu demonstrieren. Die vage Ankündigung hatte schwerwiegende Folgen. Die Stasi-Mitarbeiter, die mit ihm im gleichen Raum saßen, nahmen ihn an Ort und Stelle fest.
Das Urteil: Die ukrainische Kampfpilotin ist am 22. März in Russland zu 22 Jahren Haft verurteilt worden.
Die Anklage: Sawtschenko wird beschuldigt, am Tod von zwei russischen Journalisten im Juni 2014 beteiligt gewesen zu sein. Als Hubschrauberpilotin soll sie den Aufenthaltsort der Journalisten an die ukrainische Armee durchgegeben haben.
Die Reaktion: Die 34-Jährige weist alle gegen sie erhobenen Vorwürfe als politisch motiviert zurück. Aus Protest ist sie in einen Hungerstreik getreten. Der ukrainische Präsident Poroschenko bemüht sich um einen Gefangenenaustausch.(ss)
Unschuldig im Gefängnis
Das Urteil war schnell gesprochen. Er wurde für die Gefährdung des öffentlichen Friedens zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Körperliche Misshandlungen habe er nicht selbst erlebt, aber die Wächter hätten gewusst, wie sie ihre Macht demonstrieren können. Nach gut fünf Monaten wurde er in die Bundesrepublik entlassen. Er war einer von 32.000 Gefangenen, die gegen harte D-Mark aus der Haft in der DDR freigekauft wurden.
„Unschuldig im Gefängnis zu sitzen ist härter, als man denkt“, sagt Wendling. „Politische Gefangene brauchen Unterstützung.“ Auch wenn das vielleicht nicht die Freilassung bewirke, sei es eben wichtig für die Insassen, dass sie sich nicht alleingelassen fühlen. „Solange draußen Menschen zeigen, dass der Gefangene nicht vergessen ist, bleibt die Hoffnung am Leben.“
Bis er mit den Mahnwachen begann, habe er keine Verbindung zur Ukraine gehabt. Aber wegen seiner eigenen Erfahrung wolle er zeigen, dass Sawtschenko und die anderen ukrainischen Gefangenen in Russland und auf der besetzten Krim nicht vergessen sind. „Es geht hier nicht um mich.“
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