Horrror aus Japan auf der Berlinale: Mit Haut und Haaren
In „Creepy“ von Kioshi Kurosawa, einem Meister des Blicks in den Abgrund, nistet das Fremde längst im eigenen Haus (Berlinale Special Gala).
Ein Mann und seine Frau fangen neu an. Er, Takakura, hat als Polizist die Attacke eines psychopathischen Killers nur knapp überlebt und unterrichtet jetzt an der Universität Kriminalpsychologie. Sie ziehen in ein Haus in der Vorstadt und gehen mit kleinen Tüten in der Hand von Tür zu Tür, um sich den neuen Nachbarn vorzustellen.
Die aber verhalten sich seltsam. Die Frau nebenan knallt ihnen die Tür vor der Nase fast wieder zu. Schlimmer noch Herr Nishino, sozial und körperlich ungelenk, mal beinahe freundlich, mal unverschämt, etwas stimmt mit ihm nicht, er ist, mit einem Wort, „creepy“. Takakura kann seine Frau Yasuko allerdings trösten: Wahre Psychopathen scheinen meist sozial angepasst, wenn nicht nett.
Dann holt Takakura seine Vergangenheit ein. Ein mysteriöser Fall, bei dem eine ganze Familie verschwand und nur die pubertierende Tochter zurückblieb. Ein junger Exkollege kommt damit an, Takakura kann von der Sache nicht lassen. Die beiden besuchen das Haus, in dem das Verbrechen, falls es eines gewesen ist, damals geschah. Da stehen sie auf dem Vorplatz und die Kamera fährt in einer Art Gottesperspektive nach oben.
Diagnose Deformation
Diese Sorte Abstand zu dem, was er zeigt, erlaubt der Film ein Mal, und vorher nicht und hinterher auch nicht wieder; was allerdings durchweg eine große Rolle spielt, sind Blicke von oben, nach unten, von unten, nach oben.
Es sind schwer auf den Begriff zu bringende Verstrickungen und Machtverhältnisse, die der Film in pathologische Blick- und Körperbeziehungen fasst. In so etwas ist Kiyoshi Kurosawa ein Meister, sein Horror ist immer auch als Diagnose der Deformationen der japanischen Gegenwartsgesellschaft zu nehmen. Mit dem vielfach ausgezeichneten „Tokyo Sonata“ von 2008 hatte er seine Themen gekonnt diesseits aller Horrortropen formuliert.
19. 2., 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele.
Die Romanverfilmung „Creepy“ ist nun wieder ein Psychothriller/Horror-Hybrid, ein Film, der sich, je länger er geht, desto mehr dem Genre mit Haut und Haar überlässt. Kurosawas insistente Frage aber bleibt die nach dem Sozialen, nach den Banden, die den Menschen und seinen Nächsten, den Nachbarn, die Familie, die Frau miteinander verbinden, einander zu- und abgeneigt machen, zusammenhalten oder viel eher nicht. Ein Optimist war Kurosawa noch nie. Tief ist auch diesmal der Abgrund, in den er blickt.
Der Nachbar, schon wieder
Takakura und sein Kollege finden die Tochter der vor Jahren vom Erdboden getilgten Familie und bedrängen sie, sich zu erinnern. Etwas, so erfahren sie, war mit dem Nachbarn. Als Takakura dessen seit langen Jahren leer stehendes Haus durchsucht, macht er eine schlimme Entdeckung. Es wäre falsch zu sagen, Kiyhoshi Kurosawas Film fange mit dieser Wendung, auch wenn sie den Horror explizit macht, neu an. So falsch, wie der Anschein des Neuanfangs für Takakura und Yasuko von Anfang an war. Einholen kann einen freilich nur, was einen längst schon in Besitz hat.
Der Nachbar Nishino – den Teruyuki Kagawa, der Hauptdarsteller aus „Tokyo Sonata“, grandios creepy spielt – ist die mehr als gruselige Verkörperung dieser These.
Berlinale 2016
Man kann den Titel, den der Film japanisiert auch im Original trägt, mit gutem Recht als „unheimlich“ übersetzen, und zwar im Freud’schen Verständnis. Der schreckliche Nachbar sitzt in Wahrheit längst im eigenen Haus; im eigenen Herzen; hat Macht über die eigenen Wünsche und über die eigene Frau. Das Eigene erweist sich als fremd, das Fremde dafür als nur zu vertraut.
Immer mehr Dunkles
In den üblichen Detektivgeschichten bringt der Ermittler mit der Ratio ins Dunkle das Licht. Hier aber kommt ins scheinbar Lichte nur immer mehr Dunkles.
Die krimigenreartigen Szenen sind fast alle vor Fenstern gedreht. Es gibt ein Draußen, und da ist es hell. Schon hier aber rückt Kurosawa einzelnes immer wieder in finstere Ecken. Der Abgrund, der alles zu verschlingen droht, ist dann aber ein Raum ohne Fenster. Mit einer schweren Metalltür, die sich immer wieder öffnet und schließt. Eine Schleuse, die drinnen und draußen, Licht und Dunkel, Eigenes und Fremdes getrennt hält, ist sie aber nicht. Und dass mit dem sehr düsteren Happy End alles neu anfängt, wird niemand glauben, der mit „Creepy“ mehr als einen Blick in die Sorte Abgrund, in die zurückblickt, getan hat.
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