Die Wahrheit: United Colors of Germany
Die Realität ist oft differenzierter, als der gemeine Rechtspopulist es sich wünscht. Besonders Kindermund tut diesbezüglich Wahrheit kund.
O bwohl ich in Hessen aufgewachsen bin und zweieinhalb hessische Dialekte zumindest täuschend ähnlich nachahmen kann, trage ich einen nicht wirklich originären hessischen Nachnamen. Deswegen werde ich gern mal – in meiner Funktion als Kinderbuchautor – in Schulen eingeladen, in denen ein großer Teil der Schüler einen „Migrationshintergrund“ hat.
Oft werde ich vor diesen Kindern gewarnt. Vor allem von Lehrerinnen, die am anderen Ende des Spektrums tätig sind, in den Grundschulen der jeweiligen biodeutschen Sehr-gutVerdiener-Viertel. Als ich zum ersten Mal in einer Multikultischule lesen sollte, in der Kasseler Nordstadt, raunte mir eine Lehrerin aus dem eher bildungsbürgerlichen Wilhelmshöhe zu: „Passen sie bloß auf! Da geht’s gerne mal rund. Außerdem sprechen die kaum Deutsch, da werden sie keinen Spaß haben.“
Als ich dann vor der Klasse stand, dachte ich: Hey, da sind sie ja, die „United Colors of Benetton“: Kinder in Schwarz, Weiß und Braun – inklusive aller Zwischenschattierungen. Die Kinder waren neugierig, fremdelten aber etwas mit der Situation. Offensichtlich waren es nicht alle gewohnt, vorgelesen zu bekommen. Aber nach den ADHS-zappeligen ersten fünf Minuten beschlossen sie einfach, Lesungen tofte zu finden und hingen mir an den Lippen.
Beim obligatorischen After-Show-Gespräch kamen die klügsten Kommentare übrigens von zwei Mädchen mit Kopftuch. Auch wenn ich Kopftücher bei Kindern höchst bedenklich finde, freute ich mich über diese schönes Beispiel dafür, dass die Realität oft differenzierter ist, als der gemeine Rechtspopulist es sich wünscht.
Tatsächlich finden bis heute meine – für beide Seiten – unterhaltsamsten Lesungen in „Brennpunktschulen“ statt. Immer wieder begegnen mir da interessierte, intelligente und erfreulich lebhafte Kinder. Sicher sitzen hin und wieder auch kleine Arschlöcher dazwischen. Aber davon gibt es in den Grundschulen der durchgentrifizierten Viertel mindestens genauso viele. Diese Spezies Mensch existiert bekanntlich überall, in jeder Altersstufe.
Gut gefällt mir die Verwunderung, mit der die Kinder zur Kenntnis nehmen, dass ich trotz meines arabischen Nachnamens ein deutscher Schriftsteller bin. Ich sage dann: „Wieso, ist doch normal, ihr seid doch auch Deutsche!“, und ernte damit in der Regel einen Sturm der Entrüstung. Das sagt ihnen nämlich sonst keiner. Dass man deutsch und türkisch sein kann. Oder deutsch und arabisch. Oft formulieren das noch nicht mal ihre meist anbetungswürdigen Lehrerinnen, die oft tausendmal engagierter und herzlicher sind als an anderen Schulen.
Aber manchmal sind auch die hilflos. So wie ich, als ich in eine Klasse kam und fragte, wer denn das Mädchen auf dem Foto an der Wand sei, und man mir erzählte, dass sei eine in Deutschland geborene und aufgewachsene Mitschülerin, die vor einer Woche nach Serbien abgeschoben wurde. Dann weiß ich auch nicht mehr, ob es wirklich richtig ist, den Kindern zu erzählen, dass sie in dieses Land gehören.
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