Debatte Die einen sind erregt, die anderen empört. „Überfremdung!“, brüllen die einen. „Refugees welcome!“, rufen die anderen. Doch im Schreien zeigt sich vor allem eines: Sprachlosigkeit. Ist ein Gespräch noch möglich? Unser Autor hat eine Dialogveranstaltung der AfD besucht, um es herauszufinden: Weil ... fuck you!
Von Arno Frank
Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass wir gerade alle verrückt werden. Dazu gehört die Einlassung eines SPD-Politikers, einen Teil der Bürgerinnen und Bürger als „Pack“ zu bezeichnen. Die Feststellung einer AfD-Politikerin, die deutsche Grenze müsse „notfalls“ mit Waffengewalt gegen Flüchtlinge gesichert werden. Die Bemerkung eines CDU-Politikers, er würde sich „erschießen“, wäre er mit dieser „komischen“ AfD-Politikerin verheiratet. Der Ton ist inzwischen so toxisch, dass seine Einspeisung in den Diskurs jede politische Auseinandersetzung vergiftet. Fast fühlt man sich an den Asterix-Band „Der Seher“ erinnert, wo gallige Zwietracht die Sprechblasen grün färbt.
Da ist nur Geschrei, der lauteste Ausdruck von Sprachlosigkeit. Zudem scheinen sich wegen solcher Ausfälle allmählich die Grenzen dessen zu verschieben, was „man“ sagen kann und wer eigentlich zu definieren hat, wer „man“ ist. Wer sich äußert, muss dies schrill tun, um gehört zu werden. Wer die Erregungsangebote ablehnt, schweigt. Gibt es überhaupt noch einen gemeinsamen Raum, in dem ein Dialog über das Indiskutable stattfinden könnte?
Tatsächlich gibt es diesen Raum. Es ist ein Zweckbau im Trierer Stadtteil Euren, in den die AfD zum „Dialog“ geladen hat. In Rheinland-Pfalz ist Landtagswahlkampf, Umfragen sehen die Partei solide bei 9 Prozent. Hauptrednerin ist Beatrix von Storch – es ist ihr erster Auftritt seit ihrem „Ja“ auf die Frage, ob die Forderung nach Waffengewalt auch für „Frauen mit Kindern“ zu gelten habe.
Im Vorfeld der Veranstaltung hatten in seltener Geschlossenheit alle Parteien der Stadt erklärt: „Wer zu einer Wahlkampfveranstaltung eine Politikerin einlädt, die einen Schießbefehl gegen flüchtende Frauen, Männer und sogar Kinder an der Grenze fordert, steht außerhalb unserer rechtsstaatlichen Prinzipien.“ Nach Sprachlosigkeit klingt das nicht, eher nach einer deutlichen Ansage.
Wie auch das Engagement gegen den Auftritt, dem sich neben dem Verein „Buntes Trier“ viele Organisationen angeschlossen haben. Der Trägerverein der Halle aber sieht sich als überparteilich und hielt dem Druck stand. Die Kundgebung findet statt, gesichert von einem massiven Polizeiaufgebot.
Man könnte sich jetzt unter die rund 250 Demonstranten im Nieselregen mischen, deren Meinung man schon kennt und die man im Zweifel auf Transparenten nachlesen kann: „Fuck Nazis“ steht da, „Refugees welcome“ oder „Menschenrechte statt rechte Menschen“. Gewiss, gewiss. Argumente sind das aber auch nicht. Interessanter sind da schon die Anhänger der AfD. Angeblich wegen schlechter Parkmöglichkeiten vor Ort werden die auf das benachbarte Messegelände gelotst, von wo sie ein Shuttle zur Halle bringt – an den Demonstranten vorbei. Im Bus sitzen Lodenmäntel und Allwetterjacken und blicken starr geradeaus. Es riecht nach alten Männern, also nach seifigem Aftershave und kaltem Rauch.
Auf der Hinterbank ist ein kleines Grüppchen in eine gedämpfte Unterhaltung vertieft. Hier ist „man“ unter sich und muss nicht hinter dem Berg halten. Hier ist „man“ nicht allein mit seinem Ressentiment, steht nicht mehr am Rand mit seiner Angst. Das Geplauder ist einvernehmlich und heiter, es fallen Worte wie „Merkelismus“, „Demokratur“ und „Volkstod“.
Gerade geht es um „Unverbesserliche und Sozialromantiker“, da tastet ein schneidiger älterer Herr im Lodenmantel auf einmal nach seinem Handy. Es klingelt nicht, es bellt. Tief und wachsam und treu wie ein deutscher Schäferhund: „Ja? Ich bin auf dem Weg zur Kundgebung . . . nein, die Polizei passt schon auf uns auf.“ Nach kurzer Fahrt hält der Bus vor der Halle. Vor der Tür stehen mehr Polizisten als AfD-Anhänger.
Kaum steigen wir aus, brandet aus 50 Metern Entfernung eine Welle aus Buhrufen und Trillerpfeifen heran. Dort stehen sie also, die unverbesserlichen Sozialromantiker. Dort steht der Feind. Der Herr im Lodenmantel winkt huldvoll hinüber, worauf der Lärm sich steigert, als hätte er den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt.
Die Szene ist ein schönes Bild dafür, wie es derzeit um die Kommunikation zwischen den Polen der Debatte bestellt ist. Zwei lautstarke Empörungen stehen einander gegenüber und verleihen sich mit eingespielten Mitteln selbst Ausdruck. In den Filterblasen und Echokammern, in der Hitze des Gefechts ist rechts wie links der dröhnende Diskurs längst auf Schlagworte zusammengeschmolzen, von „Überfremdung“ bis „Willkommenskultur“. Dazwischen gibt es nichts Vermittelndes mehr.
Was ist nur mit dem guten alten Argument passiert?
Alle sprechen lauter als je zuvor, nur nicht mehr dieselbe Sprache. Fast könnte man die Verwirrung babylonisch nennen, ginge es allen Beteiligten um einen gemeinsamen Turmbau. Was aber, wenn eine immer größere Gruppe etwas ganz anderes bauen möchte, eine Mauer vielleicht? Wo wäre hier das begütigende Element? Und was ist mit dem guten alten Argument passiert, das theoretisch als Kupplung zwischen den verfeindeten Lagern dienen könnte?
Tatsächlich hat sich das ausgeruhte Abwägen, die Dreifaltigkeit aus These, Antithese und Synthese, auch früher in der politischen Praxis nur selten als wirksam erwiesen, weltanschauliche Differenzen beizulegen. Besonnenheit hat ausgedient. Stattdessen beschleunigt beiderseitige Hitzigkeit unsere debattenkulturelle Klimakatastrophe – die im Zweifel immer der rechten Seite nützt, weil sie den Frustrierten, Überforderten und Erregbaren in der Mitte endlich eine Stimme gibt. Keine Lösungen, wohlgemerkt, und keine besonders angenehme Stimme. Aber eine Stimme.
Dem Volk „aufs Maul zu schauen“ ist anstößig und Populismus zu Recht ein Schimpfwort. Wenn aber zugleich unter „Demokratie“ eine „Herrschaft des Volkes“ verstanden wird, öffnet sich die Lücke, in die populistische Parteien vorstoßen können. Wenn über TTIP, Griechenlandhilfe oder Flüchtlingspolitik unter Ausschluss der Öffentlichkeit entschieden wird, kann sich die AfD mühelos als „Partei der verantwortungsbewussten Demokratie“ (Günther Lachmann) und der Volksentscheide positionieren.
In den siebziger Jahren etablierte die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann die Theorie, aus Furcht vor sozialer Isolierung scheue eine Mehrheit davor zurück, öffentlich ihre Meinung zu äußern. Je größer der Gegensatz zum Mainstream der Meinungen, desto schneller drehe sich die „Schweigespirale“. Wenn das je stimmte, so hat es sich nun umgekehrt. Der Publizist Sascha Lobo jedenfalls sieht eine „Schreispirale“ am Werk.
Je randständiger und krasser die Meinung, umso größer ihr Reiz für eine ohnehin empörungsorientierte Berichterstattung – und umso stabilisierender ihr Effekt auf ursprünglich wirklich isolierte, inzwischen aber in sozialen Medien gut vernetzte und organisierte Minderheiten. Das Zurückrudern, das nach als skandalös verhandelten Äußerungen zum Ritual gehört, ist deshalb so aufreizend halbherzig, weil der taktische Erfolg schon im Aufsteigenlassen des diskursiven Testballons lag.
Denn für den kurzen Zeitraum zwischen einer provozierenden Grenzüberschreitung und deren erzwungenem Dementi ist die Hoheit über die Debatte jenen „Gutmenschen“ entrissen, denen es ausnahmsweise mal „die Sprache verschlagen“ hat. Wird die Provokation auch zurückgenommen, ist sie doch in der Welt und damit der Beweis geführt, dass „man“ dergleichen durchaus sagen und damit davonkommen kann. Weil, endlich sagt’s mal einer!
Wer auf einer Bahnfahrt je die Deutschlandfahnen in den Schrebergartenkolonien gezählt hat, dürfte sich über Björn Höckes drolliges Vorführen der Flagge bei „Günther Jauch“ kaum wundern – und sollte sich vielmehr fragen, was an dieser unbeholfenen Instandsetzung abgelegter Symbolpolitik so provozierend gewesen sein soll.
Wie weit die Verrohung unserer diskursiven Landschaften fortgeschritten ist, zeigt sich noch deutlicher in den USA. Dort liegt mit Donald Trump ein Anwärter auf die Präsidentschaft gut im Rennen, der sogar auf das Dementi verzichtet. Ob er zur Gewalt gegen einzelne Kritiker auffordert oder ein Lob der Folter singt – endlich sagt’s mal einer und nimmt es nicht zurück, weil . . . fuck you! Auch hier ist das eigentliche Elixier seiner Popularität das fassungslose Kopfschütteln seiner Gegner und das hilflose Gestammel seiner konkurrierenden Parteifreunde. Das Wichtigste am alten Schlachtruf „Auf sie mit Gebrüll!“ ist womöglich nicht das „Auf sie“. Sondern das Gebrüll.
Gelingt es in Trier, zu einem Dialog zu finden? Unter die vielleicht 250 Besucher haben sich etwa 100 Menschen gemischt, die schon äußerlich nicht mit AfD-Parteigängern zu verwechseln sind. „Bürgerlich-konservative“ Damen haben die Haare zum Pferdeschwanz gebändigt und legen den Hemdkragen über den Blazer, denn der Kragen ist geplatzt. Ihre lässigeren Widersacherinnen aus dem linken Milieu tragen Dreadlocks und Undercut, denn anything goes. Auch die nonverbale Kommunikation polarisiert.
Mit Zwischenrufen haben sich die Störer bereits bemerkbar gemacht. Der Saalschutz – adrett kostümierte Türstehertypen – fuchtelt alarmiert, als Joachim Paul die Bühne entert. Der angriffslustige AfD-Wahlleiter in Rheinland-Pfalz ist Mitglied einer schlagenden Verbindung, Gymnasiallehrer und Sohn eines Stahlarbeiters. 52 Jahre habe sein Vater geschuftet (“Heul doch!“), das würden die anwesenden Studenten nie hinbekommen (“Hört, hört!“), und es gebe kein Recht auf „lebenslanges Bafög“ (Gelächter, Pfiffe). Ihre „Arroganz“, schmettert Paul noch, werde den Widersachern einst das Genick brechen.
Was zumindest hypothetisch eine Debatte sein könnte, mit den Widersachern in einem Raum, ist schon vor dem Auftritt der Hauptdarstellerin einer leicht hysterischen Hochstimmung gewichen. Der Gegner wird nicht kritisiert, er wird ridikülisiert. Auf Basis von Sarah Connors „Wie schön du bist“ etwa hat Carolin Kebekus mit „Wie blöd du bist“ den Rechten die Leviten gesungen, wobei vermutlich kein einziger Rechter in sich ging und feststellte: Hm, ja, eigentlich bin ich blöde. Und in Österreich landete der Liedermacher Thomas Stipsits mit „Flüchtling“ einen Hit, im Chorus die Frage: „Wüst di blamiern jetzt oder bist ganz anfoch stui?“
Ein Flüchtlingshelfer hört ja auch keinen Doitschrock
Mehr als der Soundtrack zum eigenen guten Gewissen ist das nicht. Wer sich zur FPÖ hingezogen fühlt, der will sich notfalls eben wirklich „blamiern“ und nicht mehr „stui“ sein. Wer sich von der AfD angesprochen fühlt, der wird sich von Konstantin Wecker oder der schmunzelnden Mehrheitssatire einer „heute-show“ so wenig umstimmen lassen wie ein Flüchtlingshelfer von Doitschrock. Als Lockruf setzt die AfD in ihrem Wahlspot übrigens auf die ersten Akkorde der Nationalhymne, „Einigkeit und Recht und Freiheit“, dünn und anschlussfähig auf dem Piano geklimpert wie der Telekom-Jingle.
Lustig machen kann sich aber auch Beatrix von Storch, als sie endlich ans Pult tritt. Die Sache mit der „Waffengewalt“ ist ruck, zuck als „fehlerhaft“ verbucht, als sei da irgendwas Technisches schiefgelaufen. Im Übrigen sei sie für jedes Leben und deshalb auch gegen Abtreibung, wofür sie übelst angefeindet werde, auch geschossen worden sei schon auf ihre Mitarbeiter, „mit scharfer Munition“. Tumult im Publikum, ein Querulant brüllt: „Menschenverachtung kann man nicht zurücknehmen!“
Unter dem Applaus der braven AfD-Freunde wird der Mann robust hinauskomplimentiert. Ein Los, das bald auch jener sichtlich besoffene AfD-Sympathisant teilt, der immer kurz vor dem Einnicken die Veranstaltung mit einem gerülpsten „Deutschland!“ stört. Beatrix von Storch ist keine begnadete Rednerin. Entlang einzelner Karteikarten hangelt sie sich durchs Parteiprogramm, einen vorsichtigen Haken um die „Massenmigration“ schlagend. Ihre Stimme verfällt dabei in einen Singsang, der, je nach Standpunkt, als gelassen oder blasiert empfunden werden kann.
Inhaltlich bleibt nichts hängen, alles bleibt im Vagen, immer muss über irgendwas „noch geredet“ werden, stets werden „wir darüber auch sprechen müssen“. Es wird also ausgesprochen, dass etwas endlich ausgesprochen werden muss. Es hätte etwas Einschläferndes, würden nicht hin und wieder und reichlich anlasslos kleine Gruppen aufspringen und sich unter „Say it loud, say it clear, refugees are welcome here!“-Rufen des Saals verweisen lassen. Dabei kommt es nicht nur mit den Ordnern zu Gerangel, auch AfD-Anhänger greifen beherzt zu, es werden Tritte und Kopfstöße verteilt. Sprachlosigkeit hat zwei Seiten und wird schnell zu Handgreiflichkeit, so ist das. Geredet wird nicht, höchstens gekeift.
Als die Halle endlich von allen Störern gesäubert ist, freut sich die Rednerin über die Herstellung „ziviler Verhältnisse“ und geht zum kabarettistischen Teil über. Darin geht es vor allem um Lann Hornscheidt, von Beatrix von Storch nur „der oder das Profess-X aus Berlin“ genannt. Kein direkter Spott, nicht einmal milde Häme. Es genügt, dass sie sich dumm stellt und vermittelnd tut. Gerade so, als wäre sie wirklich das, was es so dringend bräuchte – eine Dolmetscherin zwischen den auseinanderdriftenden Sprachen. „Tja, wie soll ich das jetzt erklären?“, fragt sie gespielt ratlos und erntet Gekicher. Die spinnen, diese Profess-XY aus dem fernen Berlin. Kennt man ja. Haben wohl keine anderen Sorgen, als unsere Steuergelder zu verschleudern.
Gleiche Chancen auf Beteiligung am Dialog? Gleiche Chancen bei der Qualität der Argumente? Herrschaftsfreiheit? Nein, es fehlt schlicht an allem, was Jürgen Habermas einst als Voraussetzung für einen optimalen Diskurs genannt hat. Warum aber schlägt aus dieser asymmetrischen Konstellation inzwischen die populistische Rechte den maximalen Gewinn? Woher der schlummernde Hass, wenn es „uns“ in Deutschland derzeit doch so gut geht und die Wirtschaft brummt?
Die Klientel der AfD hat die Borniertheit nicht exklusiv
Die AfD fischt nicht, wie die NPD, im trüben Bodensatz der Verlierer. Sie hat es auf Eigenheimfaschisten abgesehen. Auf Leute, die durchaus noch etwas zu verlieren haben – und denen gerade letzte Gewissheiten wie ihr Geschlecht, ihre Familie und ihre Heimat ausgeredet werden. Diese Klientel mag sprachlich nicht so gewandt und akademisch nicht so bewandert sein. Ein exklusives Abonnement auf Borniertheit aber hat sie nicht. Die greift auch auf linker Seite um sich, dort, wo eigentlich die Avantgarde zu Hause sein müsste – an den Universitäten.
Dort ist die soziale Frage beiseitegeschoben, damit man im geschützten Sandkasten umso eifriger an marxistischen Nebenwidersprüchen herumfummeln kann. Der in den USA und Großbritannien voll entbrannte Kulturkampf um „safe spaces“ und „trigger warnings“ (also das vermeintliche Recht, nicht von abweichenden Meinungen oder Darstellungen behelligt zu werden) mit der Forderung nach „guter Zensur“ verstärkt die Sprachlosigkeit, anstatt sie an der Wurzel anzugreifen.
Antipolitik: Populismus arbeitet vor allem mit der Abgrenzung eines vermeintlich homogenen Volkes vom politischen Establishment. Populisten treten deshalb oft als Antipolitiker auf. Sie propagieren eine moralische Überlegenheit des Volkes gegenüber vermeintlich korrupten Politikern.
Nährboden: Populisten haben häufig dann Erfolg, wenn sich eine Gesellschaft schnell verändert und bestimmte Gruppen einen Orientierungsverlust beklagen. Der Sozialwissenschaftler David Bebnowski sieht ein Wesensmerkmal des Rechtspopulismus in der kulturellen Abwertung anderer. Sie seien störende Elemente, die eine grundsätzlich funktionierende Ordnung korrumpieren würden.
Rhetorik: Die Rhetorik von Populisten betont das Problem, nicht die Lösung. Demokratieforscher Matthias Micus sieht darin eine „umgekehrte Psychoanalyse“. Die Untergangsprophezeihung ersetzt die konkrete Suche nach Handlungsalternativen.
Vielleicht besteht zwischen dem lustvoll-regressiven Rückfall der Rechten ins rhetorisch Dumpfe und den überkorrekten sprachlichen Feinverästelungen einer abgehobenen Linken sogar ein ursächlicher und unheilvoller Zusammenhang. Vielleicht ergänzen sich der Quark der Unterkomplexen und der Quatsch der Hypermoralischen wie zwei Seiten einer Münze.
Immer sind „wir“ uns alle „einig“, dass „das“ so „gar nicht geht“. Wenn es etwas gibt, worin beide Blasen sich überraschend einig sind, dann ist es dieses Wissen um die Richtigkeit und Rechtschaffenheit der jeweils eigenen Position. Pole sind magnetisch. Daher auch die moralisch-ideologische Anziehungskraft beider Seiten, zwischen denen kein Mittelweg mehr gangbar scheint.
Gemein ist den Extremen das Desinteresse auch daran, sich in das Gegenüber versetzen, seine Positionen wenigstens versuchsweise nachvollziehen zu wollen. Schon der Gedanke daran ist Defätismus und wird entsprechend abgestraft. Je mehr die allgemeine Verwirrung und Verunsicherung wächst, umso sicherer sind „wir“ uns unserer Meinungen. Wir tragen sie wie fugenlose Rüstungen. Kein Zweifel, kein Tasten mehr, nirgends. Alle wissen Bescheid. Niemand lässt sich mehr etwas vormachen.
Wenn sich daran nichts ändert, wird sich auch an der Sprachlosigkeit nichts ändern. Dann werden wir uns an unseren konträren Positionen einfach nur wund reiben, anstatt uns aufeinander zuzubewegen. Vielleicht sollten wir auch die Therapiebedürftigkeit unserer Gesellschaft nicht überschätzen und mit dem irren Computer aus „2001 – Odyssee im Weltraum“ sagen: „Dieses Gespräch hat keinen Sinn mehr. Es führt zu nichts.“
Das muss kein Fatalismus sein. Im Gegenteil. Denn allen Suggestionen zum Trotz entscheidet sich das Wohl unserer Gesellschaft nicht in Talkshows, Leitartikeln, nicht im Internet und auch nicht in Stadthallen. Sondern an der Urne. „Wahltag ist Zahltag“, wie es bei der AfD so gern heißt.
Bis dahin ist noch ein wenig Zeit. Wir sollten sie nutzen, um ein wenig an die frische Luft zu gehen. Oder in der „Rumpfkluft“-Kollektion der Satiriker Katz & Goldt zu stöbern. Auf einem T-Shirt steht: „Es gibt Leute, die sehen das anders“.
Arno Frank, 45, lebt als freie Schreibkraft im Rheingau und wird selten laut
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen