Ziele Im Januar 2015 erfährt Marlies Mascheski, dass sie unheilbar krank ist. Darmkrebs. Sie wird daran sterben. Aber noch geht es ihr gut. Was tut man mit der Zeit, die bleibt? Unsere Autorin begleitet eine Frau, die sich entschieden hat: Damit kann sie leben
Aus Berlin Sandra Löhr
Nein, das ist ja auch das Merkwürdige“, sagt sie. „Man kriegt diese Diagnose und denkt: Oh, jetzt musst du wirklich dein Leben anders aufziehen. Und was tut man? Man geht einkaufen, man denkt, was essen wir heute, was essen wir morgen? Man ärgert sich über den Mann oder über die Kinder – je nachdem –, man ist so wie immer. Man wäscht die Wäsche, und mitten im Wäschewaschen denkt man dann plötzlich: Warum ist das jetzt eigentlich alles so normal? Eigentlich müsstest du doch jetzt ganz anders leben!“
Berlin-Charlottenburg. Ein kalter Frühlingstag Anfang 2015. Die Bäume sind noch kahl, es geht ein frischer Wind. Marlies Mascheski, Ende sechzig, graue Locken, blaue Augen, sitzt in einem Café. Vor sich eine große Tasse Fencheltee, den sie mit langsamen Schlucken trinkt. Unter ihrer dunkelgrauen Strickjacke lugt ein sorgsam drapierter grüner Seidenschal hervor, ihr Lachen ist herzlich und offen. Wenn man sie sieht, würde man nie auf den Gedanken kommen, dass diese Frau todkrank ist. Und ein bisschen hat man das Gefühl, als würde auch in ihren Sätzen ein ehrliches Erstaunen über diesen Umstand mitschwingen. So als könne sie es selbst noch nicht glauben, was ihr ein Onkologe am Schreibtisch seiner Praxis vor ein paar Wochen eröffnet hat: Ihr Darmkrebs ist unheilbar, wir können Sie nur noch palliativ behandeln.
Unheilbar.
Jahrelang hat Marlies Mascheski gegen den Krebs gekämpft. Erst kam der Brustkrebs, wie bei so vielen Frauen jenseits der Fünfzig. Als er ausgeheilt war, bekam sie Darmkrebs. Immer wieder hat sie ihn zurückgedrängt; hat alles auf sich genommen, Operationen, Bestrahlungen, Chemotherapien. Schließlich den künstlichen Darmausgang akzeptiert, obwohl ihr das schwer fiel.
Hauptsache leben.
Doch dann, vor ein paar Wochen an einem grauen Winternachmittag im Januar 2015, die Diagnose: Sie wird am Darmkrebs sterben. Es erscheint ihr nicht fassbar in dem Moment. Denn sie lebt ja. Und sie hat das Gefühl, es geht ihr gut.
Marlies Mascheski ist eine von rund 500.000 Menschen in Deutschland, die Jahr für Jahr an Krebs erkranken. Die moderne Medizin kann vielen von ihnen helfen, den Krebs zu besiegen oder ihn Jahre, manchmal Jahrzehnte in Schach halten. Doch gut 200.000 Menschen sterben irgendwann daran. Je nach Krebsart dauert das unterschiedlich lang; bei Lungenkrebspatienten sind es meistens nur wenige Monate, andere leben oft noch Jahre mit dem Wissen, dass der Tod irgendwann kommen wird.
Doch was passiert in dieser letzten Lebensphase, in der man sich mit der Endlichkeit, mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen muss – etwas, von dem man ja weiß, was aber so lange abstrakt bleibt, solange die Ärzte noch Worte benutzen wie: behandelbar.
David Bowie hat das Wissen um seinen nahen Tod auf seinem letzten Album „Blackstar“ künstlerisch verarbeitet; zwei Tage, nachdem es erschienen war, starb er. An einer Krankheit, gegen die er lange im Stillen gekämpft hatte. Der Theaterregisseur Christoph Schlingensief dagegen hat sein Leiden öffentlich gemacht, es auch als Material für seine Inszenierungen benutzt und dann noch ein Operndorf in Afrika gegründet.
Wie geht man also um mit diesen letzten Fragen? Fragen, die für den Alltag vielleicht zu groß sind, die aber dann plötzlich relevant werden: Was soll von mir bleiben, wenn ich nicht mehr auf dieser Welt bin? Was mache ich mit der Zeit, die mir noch bleibt? Wie will ich wirklich leben?
Vielleicht wissen unheilbar Erkrankte etwas, was wir Gesunden noch nicht wissen. Ein Aufscheinen der Erkenntnis darüber, was wirklich wichtig ist, wie man es lebt, das Leben – und wann man es loslassen sollte.
Die Psychoonkologin Anja Mehnert forscht an der Universität Leipzig über diesen schwierigen Prozess. Die blonde Enddreißigerin sitzt in ihrem Büro im Altbau des Universitätsgebäudes an ihrem mit Papieren übersäten Tisch und erzählt von ihrer Studie über unheilbar an Krebs Erkrankte. Davon, dass plötzlich kleine Dinge wichtiger werden, der Alltag, das ganz Normale. Und vor allem die Familie. Schon seit ein paar Jahren arbeitet sie an dieser Studie, hat Patientinnen und Patienten in Hamburg und Leipzig begleitet und gefragt, was für sie wichtig wird am Lebensende, was sie sich wünschen, was sie an Unterstützung brauchen.
Denn auch für die Wissenschaft ist es ein neues Phänomen: die mitunter lange Zeit, die einem unheilbar Erkrankten dank besserer Medikamente heute noch bleibt. Vor allem eine Sache fällt Anja Mehnert immer wieder auf: Dass es für viele Patienten schwer auszuhalten ist, wenn keine Therapien mehr gemacht werden. „Warum das so ist, ist eine spannende Frage. Warum können wir es so wenig gut aushalten, zu warten?“
Marlies Mascheski dagegen hat sich für das Warten entschieden – und eine weitere Behandlung erst mal abgelehnt. Sie beschließt, auf ihr Gefühl zu hören. Und das sagt ihr, dass sie ihr restliches Leben mit der Familie, mit ihren Kindern und Enkelkindern und vor allem auf Reisen verbringen möchte – und nicht mehr bei Ärzten und in Krankenhäusern. Sie hat sich vorgenommen, sich von der Diagnose nicht einschüchtern zu lassen. Im Jetzt leben, nicht ans Morgen denken. Aber so ganz gelingt ihr das natürlich nicht immer, sagt sie. Oft überfällt sie die Angst, was werden wird, wie es weitergehen wird. Wann es anfängt, das Sterben.
Doch sie hat einen Weg gefunden, der ihr dabei hilft. Immer schon hat sie gerne geschrieben, Tagebuch, kleine Geschichten. Auch während des jahrelangen Auf und Ab ihrer Krebserkrankung schreibt sie alles auf, was ihr so begegnet: Gespräche mit Ärzten und Zimmernachbarinnen. Wie es ist, sich plötzlich um einen künstlichen Darmausgang kümmern zu müssen. Von Freundinnen und Freunden, die sich zurückziehen. Mit der Begründung, dass sie mit dem Tod nicht umgehen können. Vor allem aber beschreibt sie ihre Gedanken und Gefühle als Patientin einer Hochleistungsmedizin, die bösartige Befunde auch einfach mal so zwischen Tür und Angel oder noch halb sediert im Aufwachraum mitteilt. Seitdem sie weiß, dass sie als unheilbar gilt, ist ihr das Schreiben noch wichtiger geworden. Sie will alles festhalten, auch den Moment im Januar 2015, als der Arzt sie über das Rezidiv und die Metastasen in ihrem Bauchraum aufklärt:
Januar 2015
Ich denke, ich höre nicht richtig und frage nach. Unheilbar. Ein Dolchstoß mitten ins Leben. Vorbei, alles vorbei. Dabei fühle ich mich gut, habe Appetit, muss schon wieder aufpassen, dass ich nicht zunehme, bin nur ein wenig schwach beim Laufen. Will ich Chemotherapie? Will ich das überhaupt? Mir ist übel. Das Herz rast. Die Angst. Angst essen Seele auf. So ist es. Ich denke und denke und denke. Diese hinterhältigen Krebszellen, nicht abzuschütteln sind sie. Und nun auch noch unheilbar. Die Ärzte haben sich geirrt, denke ich, es kann nicht sein, ich fühle mich wohl.
Anja Mehnert, die Psychoonkologin aus Leipzig, erklärt den Moment der Diagnose einer unheilbaren Krankheit als eine Art Schockzustand, der Menschen in ein Gefühlschaos stürzt und oft mit Verdrängung und Verleugnung einhergeht. Weil es schwer ist, Informationen in so einem emotionalen Stresszustand überhaupt aufzunehmen. Eine solche Diagnose kann man nicht von heute auf morgen begreifen, dazu brauche man Zeit: „Abwehrmechanismen wie Verdrängung werden auch beschrieben als das ‚Immunsystem der Psyche‘, was ein schönes Gleichnis ist. Es beschreibt, wie die Seele dafür sorgt, dass man das, was einen erst mal überfordern würde, abwehrt. Damit man Zeit hat, dass bedrohliche Informationen langsam ins Bewusstsein vordringen können“, sagt sie.
Marlies Mascheski gibt sich diese Zeit, fängt nicht mit einer weiteren Chemotherapie an, wie es ihr Onkologe vorschlägt. Zu oft hat sie sich in den letzten Jahren Therapien unterzogen, die den Krebs nie wirklich besiegen konnten. Immer hieß es, jetzt haben wir alles rausgeschnitten, jetzt nur noch diese eine Chemotherapie oder diese eine Bestrahlung und dann haben sie es geschafft. Aber die Krankheit kommt immer wieder. Nach der Diagnose im Januar 2015 beschließt sie, sich nicht mehr darum zu kümmern – so lang es geht. Sie weiß, dass sie verdrängt, aber das ist ihr egal. Sie hat schon so viel Zeit an diese Krankheit verloren, jetzt begegnet sie dem Tod trotzig. Mit dem Leben.
Frühjahr 2015
Bin ich denn verrückt? Es geht mir gut, aber mein Gefühlszustand fährt mit mir Achterbahn mit mehreren Loopings. Manchmal bin ich außerordentlich ruhig, manchmal schnürt mir die Angst die Kehle zu. Aber sind wir nicht alle Todeskandidaten? Niemand ist ausgenommen oder kann es sich kaufen. Manchmal denke ich, was soll’ s, manchmal möchte ich Amok laufen, manchmal bin ich neidisch auf die, die gesund sind. Aber vielleicht ist ja gar nichts. Ich mache lieber Pläne – für jeden Monat einen. Ich habe noch keine Lust zu gehen, ich will noch leben! Wenigstens noch Paris mit Fabienne, wenigstens noch die Einschulung von Lilli, wenigstens noch drei Wochen in den Süden, wenigstens noch den Frühling, den Sommer, den Herbst und Weihnachten. Und dann noch die Kinder aufwachsen sehen. Und leben, leben, leben. Herrgott, ist das denn zu viel verlangt?
Dann aber fallen mir die kleinen Kinder ein, die jungen Erwachsenen, die an Krebs erkranken, bevor sie etwas vom Leben gehabt haben. Ich hatte schon ein Leben. In meinem Buch des Lebens fehlen nicht mehr viele Kapitel, und diese Krankheit ist ein Kapitel mehr. Nur nicht undankbar sein. Diese Erfahrung mit allen Sinnen mitnehmen und nur nicht aufgeben. Aber vielleicht ist ja auch gar nichts. Ich hätte gerne ein Wunder.
Einige Wochen später. Es ist Frühsommer geworden und fast schon hochsommerlich warm. Marlies Mascheski öffnet die Tür zu ihrer Wohnung. Sie sieht gut aus, eine lebenslustige Frau mit einer weiten Sommerhose und hellem, großzügig geschnittenen Shirt. Von Krankheit keine Spur. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Erst als sie durch den Flur zur Küche läuft, zeichnet sich der Beutel, der zu dem künstlichen Darmausgang gehört, an ihrer linken Körperseite ab.
Zusammen mit ihrem Mann Horst bewohnt sie eine großzügig geschnittene Wohnung im Berliner Bezirk Charlottenburg. Ein Balkon geht auf den grünen Hinterhof, Bäume wiegen sich im Wind, Vögel zwitschern. Im Wohnzimmer hängt ein großes Foto. Es zeigt Sohn und Tochter und deren jeweils drei Kinder vor einer weißen Leinwand in einem Fotostudio. Die Eltern knien, die Kinder sitzen auf dem Boden, alle lachen in die Kamera. In der Küche eine Bastmatte auf dem grauen Linoleumboden: Zwei Dutzend Städtenamen sind dort mit roter Farbe aufgedruckt – Venedig, Madrid, New York, Barcelona, Paris.
Das Ehepaar setzt sich an den Küchentisch. Vor ihnen liegen Reiseprospekte aus Bayern. Gerade planen sie den Sommerurlaub in Reit im Winkl – mit der ganzen Familie. Früher waren sie immer im Winter dort, Skilaufen. Aber das geht jetzt nicht mehr. Also fahren sie im Sommer, auch wenn das mit dem Wandern wahrscheinlich auch nicht so gut gehen wird.
Hauptsache, noch einmal Reit im Winkl. Marlies Mascheski freut sich schon auf die Berge und auf die Natur. Früher, sagt sie, hätten sie manchmal lange gespart auf eine Reise und sie dann auch mal verschoben. „Jetzt denke ich, ach nee, schieben kannst du jetzt nicht mehr. Jetzt musst du eben das, was machbar ist, auch tun“, sagt sie und nimmt einen großen Schluck von ihrem Fencheltee. Wieder Fencheltee, an diesem warmen Tag trinkt sie ihn kalt. Aber immer Fenchel, weil sie das Gefühl hat, dass ihr kranker Darm davon ruhiger wird.
Im Mai waren die Mascheskis mit der Enkeltochter in Paris. Im Herbst wollen sie zu zweit nach Barcelona. „Und ich möchte noch eine Mittsommernacht erleben, dann noch das Nordlicht in Reykjavik und dann noch zu den Eisbergen in Grönland und möglichst sehen, wie so ein Berg kalbt“, sagt Marlies Mascheski. Horst Mascheski schaut etwas überrascht auf und sagt: „Ach so? Von Grönland wusste ich bisher noch gar nichts.“
Sie schauen sich an und müssen lachen. Man spürt die Verbundenheit. Beide haben lange in der Verwaltung der Post gearbeitet und nebenbei viele Reisen gemacht. Als die Kinder Teenager waren, sind sie mit dem Wohnmobil durch die USA gefahren. Und immer war es Marlies Mascheski, die sich alles ausdachte, alles plante.
Jetzt würde sich Horst Mascheski manchmal wünschen, seine Frau hätte nicht diese Reiselust, nicht diesen Lebenshunger, würde nicht so unbedingt vorwärtsstürmen. Er hat Angst, dass sie sich übernimmt, sich in Situationen bringt, in denen es schwer wird, sofort ärztliche Hilfe zu finden. Was, wenn Blutungen plötzlich wieder auftreten und sie ins Krankenhaus müssen?
So wie Horst Mascheski geht es vielen Angehörigen von unheilbar erkrankten Patienten. Sie müssen, wollen stark sein für ihre Partnerinnen und Partner und bekommen oft selbst viel zu wenig Hilfe und Unterstützung in dieser Zeit, die bleibt.
Zögernd versucht Horst Mascheski seine Bedenken zu erklären, verfällt dabei immer mehr ins Berlinerische. Der Wunsch seiner Frau nach Paris zu fahren, kam gleich nach der Diagnose „unheilbar“, die ihn am Anfang fast mehr traf als sie. „Und da hab ich eben gesagt: Ja, wollen wir denn jetzt wirklich nach Paris?“ Dahinter verbarg sich in dem Moment die Frage, die hinter allem steht für ihn: Was ist jetzt überhaupt noch möglich, was ist sinnvoll? Aber auch etwas ganz Konkretes: „Hoffentlich geht das gut. Jetzt muss sie ja da nicht gleich sterben. Aber wenn sie da Schmerzen kriegt, und ich kann ja kein Französisch. Aber gut, da gibt es ja auch Ärzte.“
Liest man die Tagebucheinträge dieses Sommers, versteht man das Auf und Ab der Gefühle und vor allem den Lebenshunger von Marlies Mascheski.
Sommer 2015
Ich kann gar nicht genug bekommen vom Weggehen und vom Reisepläne schmieden. Ein neues Gefühl der Lebenslust entsteht in mir. Horst meint, wir müssen Fenster putzen. Was gehen mich die Fenster an? Ich will leben und erleben! Vielleicht habe ich ja auch gar nichts in den anderen Lymphknoten, vielleicht sind sie nur aus Solidarität so groß geworden? Will ich eigentlich noch irgendetwas wissen?
Ich habe so eine Wut auf alles und jeden, Ich renne, so schnell ich kann. Ich habe das Gefühl, die Wut ist mir wie ein schwarzes Tuch um den Kopf gewunden, sodass ich nichts mehr sehe. Irgendwann hört sie auf und ich bin wieder normal? Ich horche in mich hinein und denke, da ist nichts, keine Krankheit, nichts.
Ja, und da sind sie wieder, wie gute alte Bekannte, die Zweifel. Was soll ich nur tun? Ich habe das Gefühl, wertvolle Zeit zu vergeuden. Sie mit Nichtigkeiten totzuschlagen. Wie verbringt man die Zeit, die einem bleibt? Oder ist das vollkommen gleich? Heute ist ein Flugzeug abgestürzt. Eine ganze Schulklasse saß darin. Gott, tut mir das leid, die armen Eltern. Worüber beklage ich mich eigentlich?
Aber genau wie vorher in Paris geht auch im dreiwöchigen Sommer-Familien-Urlaub in Reit im Winkl alles gut. Marlies Mascheski schafft sogar stundenlange Bergtouren in den Kalkalpen, besucht mit ihren sechs Enkelkindern hoch gelegene Almen, genießt die Aussicht. Der Tod ist weit weg und mit ihm die Ärzte, Krankenhäuser und Chemotherapien. Im Herbst 2015 fährt das Ehepaar Mascheski dann tatsächlich auch noch nach Barcelona, obwohl Marlies Mascheski schon spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Die Krankheit rückt näher. In ihrem Tagebuch schreibt sie:
Anfang November 2015
Ich lese viel und picke mir aus Büchern Sätze heraus wie folgenden: „Wir haben nur dieses eine Mal. Schiefgehen kann immer alles. Es ist keine Kunst, das zu befürchten und die Dinge sein zu lassen. Das ist einfach.“ Genau das ist die Einstellung, die mich zwingt, Reisen zu machen, das zu tun, was mich herausfordert, sprachlich und organisatorisch. Mein Lebenselixier. Und so bekomme ich Horst endlich dahin, nach Barcelona zu fliegen. So ganz unbeschwert gehe ich nicht auf die Reise, denn mein linkes Bein hat sich fast unmerklich verändert. Es ist dick geworden, besonders um die Knöchel rum. Aber ich will niemandem was sagen, nicht den Arzt fragen, sonst sagt noch jemand, dass ich nicht reisen kann.
Und wieder geht alles gut – fast. Das Ehepaar läuft den ganzen Tag, steigt die vielen Treppen der hügeligen Stadt hoch und runter, spaziert am Meer und Marlies Mascheski besucht alle Sehenswürdigkeiten, die sie sich akribisch rausgesucht hat. Am letzten Tag den Parque Güell von Antoni Gaudí. Ein Ort, wie aus Raum und Zeit gefallen: ein kleiner Garten Eden mit bunten Mosaiksteinen, wundersam organisch geformten Bauwerken und üppigen Pflanzen, hoch oben über der lärmenden Stadt. Doch am Abend wird ihr Bein plötzlich noch dicker und noch röter. Sie ist froh, dass es am nächsten Tag nach Hause geht. Sie denkt zunächst an eine Thrombose, erst dann an die Metastasen in ihrem Bauchraum.
In Berlin lässt sie sich sofort im Krankenhaus untersuchen. Ihre Befürchtung bestätigt sich. Ihr Onkologe, der den Bericht des Krankenhauses bekommt, sagt am Telefon: „Wenn sie können, kommen sie noch heute.“
Er rät ihr dringend zu einer Chemotherapie, um die Metastasen, die den Lymphfluss behindern, zurückzudrängen. Marlies Mascheski hört wieder die bekannten Worte: Port, Perücke, Chemotherapie. Doch zunächst bekommt sie blutverdünnende Heparinspritzen. Damit schwillt das Bein ab und sie kann wieder normal laufen. Erneut ist sie sich unsicher, ob sie noch eine Chemotherapie machen soll.
Mitte November 2015
Am Abend kommt C., meine Tochter, und weint schrecklich. Das kann ich nicht ertragen. Schluchzend berichtet sie, dass sie gegoogelt hat und was sie alles herausgefunden hat. Es muss schrecklich sein, denn sie kann sich gar nicht beruhigen. Ich tröste so gut ich kann. Wenn die Lymphzufuhr stagniert, können die Beine mit der Zeit so dick werden bis zur Hüfte, sodass man nicht mehr laufen kann. Total herrliche Aussichten. Jetzt musst du eine Chemo machen, sagt sie. Wir unterhalten uns über Särge und Friedhöfe und meine Wünsche. So schlecht fühle ich mich jetzt doch nicht, sage ich. Endlich lachen wir wieder. Was zum Kuckuck hat sie nur alles gelesen? Ich vermeide es, nachzuschlagen, ich will nichts mehr wissen.
Marlies Mascheski entscheidet sich für die Chemotherapie. Ihre Familie ist dafür. Das ist stärker als ihre Unsicherheit. Ende November beginnt sie mit der Therapie. Zur Vorbereitung muss sie sich einen Port unter die Haut pflanzen lassen, einen Zugang für die Infusionen. Und ein entzündeter Backenzahn muss auch noch raus.
Ende November 2015
Mein schwarzer Humor ist aktiv: Mut zur Lücke im Mund. Mut zu ohne Haare. Donnerstag Perückentag. C. wird mich begleiten. Dann geht es los mit der Chemotherapie. Ich bin ziemlich sorgenvoll. Vierzehn Tage sind seit Barcelona vergangen. Meine Güte, was war hier los. Ich fasse es nicht, dass ich davon fast jeden Tag beim Arzt war.
Ende Dezember 2015. Marlies Mascheski ist etwas schmaler geworden, vor allem im Gesicht sieht man es ihr an, aber wie immer lächelt sie freundlich, als sie die Tür zu ihrer Wohnung öffnet. Im Wohnzimmer steht der mit weißen Kerzen und bunten Kugeln geschmückte Weihnachtsbaum, in der Küche hängen die vielen Weihnachtskarten an einem Paketband über dem Esstisch.
Die ersten vier Wochen der ambulanten Chemotherapie hat sie hinter sich. Und auch die ersten starken Nebenwirkungen wie Übelkeit und Durchfall haben sich eingestellt. Zwar bekommt sie Tabletten gegen die Übelkeit, aber die lösen bei ihr solch starke Kopfschmerzen aus, dass ihr davon wieder übel wird. Sie zuckt mit den Schultern: „Ein sinnloser Kreis.“
Sie geht in das Gästezimmer, in dem ihr Computer steht. Auf dem Tisch daneben steht ihre Tasse Fencheltee. Das schmale Bett ist übersät mit den ausgedruckten Seiten ihres Tagebuchs, das sie gerade noch einmal neu ordnet.
Wenn sie keine Chemotherapie in der Praxis bekommt, wenn sie nicht mit den Nebenwirkungen kämpft oder Zeit mit ihrer Familie und Freunden verbringt, sitzt sie hier und versucht weiterhin, alles aufzuschreiben, alles festzuhalten, was mit ihr passiert.
Dezember 2015
Mein Darm blutet, um die Blase herum brennt es. Vermutlich sind diese Nebenwirkungen etwas, wogegen es keine Medizin gibt. Das ist toll, sie erforschen immer neue Chemotherapien, aber sie schaffen es nicht, die Nebenwirkungen wirksam zu behandeln oder ganz auszuschließen. Nachts spreche ich mit meinen Organen und lege mich mental wieder unter den Wasserfall. Alles Schlechte wird aus meinem Körper gespült in den großen Fluss und dann ins Meer. Manchmal hilft mir das, manchmal denke ich, alles ist egal. Hätte ich nur nicht mit der Chemotherapie angefangen.
Im Januar 2016 geht es Marlies Mascheski zwischen den einzelnen Zyklen auch immer wieder gut. Sie fühlt sich unternehmungslustiger, freut sich auf das Ende der Chemotherapie. Ein Jahr ist seit der Diagnose „unheilbar“ im Januar 2015 vergangen. Ein Jahr voll von Freude und Trauer, ein ganzes Jahr Leben. Sie sagt, dass sie den Krebs zwar nicht besiegt hat, aber dass er eben auch nicht vollständig ihr Denken übernommen hat. „Ich habe das Leben teilweise intensiver gelebt als je zuvor.“ Und trotz der Schmerzen, der Übelkeit: Noch immer gibt es Augenblicke, in denen sie den Krebs vergisst.
Januar 2016
Veränderung:Die Diagnose einer Krebserkrankung verändert das Leben oft grundsätzlich. Es scheint an Sinn zu verlieren, und zwar für Patienten und Angehörige gleichermaßen.
Hilfe:Psychoonkologen wie die im Text erwähnte Anja Mehnert vom Uniklinikum Leipzig gehen davon aus, dass psychosoziale Unterstützung die Erkrankung und ihren Verlauf positiv beeinflusst und mehr Lebensqualität ermöglicht. Die Unterstützung kann in Beratungsgesprächen bestehen, bei der Suche nach Hilfsangeboten oder auch in einer Psychotherapie.
Suche: Informationen über psychoonkologische Hilfe findet sich auf der Seite der Arbeitsgemeinschaft für Psychoonkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft: www.pso-ag.de
Nur manchmal zwischendurch erstarre ich mitten in einer Bewegung oder einem Tun und denke, ich bin das, die krank ist, die Krebs hat, die Metastasen hat, die nicht weiß, wie lange sie noch leben wird. Es ist so unvorstellbar, dass ich regungslos verharre. Ich bin das. Nie hätte ich das mal angenommen. Wie viele Menschen denken, Krebs bekommen andere, nicht ich, ich bin immun. Und jetzt sitze ich zwischen den anderen Leuten, die vielleicht auch mal so gedacht haben.
Bis Februar 2016 folgen im Zweiwochenrhythmus weitere Chemotherapien, dann wollen die Ärzte sehen, ob die Metastasen zurückgegangen sind.
Leben, das hat für Marlies Mascheski immer Familie, Freunde und Reisen bedeutet. Jetzt ist das Schreiben noch wichtiger für sie geworden: Gedanken, Gefühle, Briefe für die Familie, an die Kinder, Enkelkinder für die Zeit nach ihrem Tod. Auch ihre Träume notiert sie.
Ich träume merkwürdige Dinge, ich sehe alles wie in einem Film. Ich träume von Särgen. Ich liege in einem schönen hellen Sarg auf den Spitzenkissen und stelle fest, dass meine bloßen Füße gegen das Fußende stoßen. Der Sarg ist also zu kurz. Aber mir gefällt das Äußere. Als ich aufwache, denke ich, das war ein hübscher Sarg, das muss ich sofort aufschreiben. Bloß nicht so einen wuchtigen Sarg wie ihn Hannelore hatte, scheußlich mit goldenen Handgriffen. Da kommt ja niemand raus.
Ich habe mal gelesen, dass Särge bedeuten, dass etwas Neues angefangen wird. Warum nicht. Es bedeutet nichts Schlechtes.
Sandra Löhr, 43, lebt als freie Journalistin in Berlin. Medizin- und Gesundheitsthemen sind Schwerpunkte ihrer Arbeit
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