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Die Schweiz und die Demokratie

ZEITGESCHICHTE Es ist eine ziemlich komplexe und oft überraschende Geschichte, die der Historiker Jakob Tanner über die Entwicklung der Eidgenossenschaft erzählt

Schweizer Flugabwehrsoldat überwacht 1939 den Luftraum an der Grenze zu Deutschland Foto: Keystone Schweiz/laif

von Rudolf Walther

Weitherum gilt der Nationalstaat nach wie vor als eine Art „Normal“- oder „Naturzustand“. Historisch ist das eine ganz unhaltbare Vorstellung, denn Nationen werden „gemacht“ und verdanken ihre Langlebigkeit nicht zuletzt der Tatsache, dass der profane Entstehungsprozess mit allerlei heroisch unterlegten Legenden und frommen Mythen verschönert wird. Ein geradezu exemplarischer Fall ist in dieser Hinsicht die Schweiz.

Als der Schweizer Schriftsteller und Essayist Lukas Bärfuss ein paar Schweizer Lebenslügen unter dem Titel „Die Schweiz ist des Wahnsinns“ im Oktober in der FAZ attackierte, improvisierte der historisch ahnungslose Roger Köppel, Besitzer und Chefredakteur der Weltwoche und medialer Jagdhund der rechtspopulistisch-reaktionären Schweizerischen Volkspartei (SVP) des Milliardärs Christoph ­Blocher, über die angeblich „jahrhundertealte Demokratie“.

Ohne patriotische Vernebelung betrachtet, ist die Schweizer Demokratie keine 200 Jahre alt, 1848 entstanden nach einem kurzen Bürgerkrieg und als einzige gelungene Revolution im tragischen Jahr 1848, als sonst europaweit alle bürgerlich-­demokratischen Revolutionen scheiterten.

Die helvetische Demokratie von 1848 ist eine ziemlich unvollkommene „Demokratie“ geblieben. Trotz einer Verfassungsrevision 1874 blieb die „jahrhundertealte Demokratie“ in der Schweiz bis 1999 eine Demokratie ohne Grundrechtskatalog, den schon die nie in Kraft getretene deutsche Verfassung von 1848 enthielt, und ohne Streikrecht, das die Weimarer Verfassung von 1919 festschrieb, ebenso wie das Frauenstimmrecht, das in der Schweiz mit Ach und Krach 1971 eingeführt wurde.

Die Schweiz und die Demokratie – das ist allein im 20. Jahrhundert eine ziemlich komplexe Geschichte. Der emeritierte Zürcher Historiker Jakob Tanner entfaltet sie in allen Facetten in grandioser Weise und mit souveräner Übersicht in seinem über 600 Seiten starken Buch.

Die Verklärung im Repertoire

Ohne patriotische Vernebelung ­betrachtet, ist die Schweizer ­Demokratie keine 200 Jahre alt

Anders als in Deutschland, wo die deutschtümelnd-primitive Art der Geschichtsschreibung nur noch in rechtsradikalen Sekten gehegt und gepflegt wird, gehört die national-chauvinistische Verklärung der Schweizer Geschichte als „Glücks- und Sonderfall“ zum Repertoire der konservativen Medien und der rechtspopulistischen Parteien in der Schweiz. Blochers SVP etwa versucht aus der eben gerade 500 Jahre zurückliegenden, verlorenen Schlacht der Schweizer Söldner in der Nähe von Mailand Nektar zu saugen für ihren politischen Grabenkrieg gegen die EU. Das ist ungefähr so, wie wenn sich Angela Merkel auf Hindenburgs Schlacht bei Tannenberg bezöge, um gegen Putins Politik Stimmung zu machen oder gleich auf Kaiser Otto den Großen, der 955 bei Augsburg die Heiden aus dem Osten zurückschlug.

Wenn man von historischen Galoppritten der Konservativen und Rechtspopulisten absieht, gilt Schweizer Geschichte – zu Unrecht – als ungefähr so unerheblich und langweilig wie die San Marinos oder Luxemburgs. Tanners Buch beweist das Gegenteil. In vielen Konflikten und bei vielen entscheidenden Prozessen in der europäischen Geschichte war die Schweiz, die 1815 von den Großmächten als vordemokratischer Pufferstaat eingerichtet wurde, ein zuweilen wichtiger Trittbrettfahrer mit „ausgeprägtem Chamäleon-Charakter in seinen Außenbeziehungen“ (Tanner).

Im Vormärz und nach 1848 war er eine Fluchtburg für europäische Demokraten und Sozialisten, im Zweiten Weltkrieg eine Drehscheibe für Gold und Geheimdienste aus der ganzen Welt und im Kalten Krieg eine Zitadelle der USA und zugleich ein Land, das es verstand, die Finanzwirtschaft zu einem nationalen Geschäftsmodell auszubauen.

Es ist beeindruckend, wie Tanner das riesige Material sortiert und so strukturiert, dass die prägenden Züge der schweizerischen Wirtschafts-, Sozial- und Innenpolitik und deren Kontinuitäten und Brüche sichtbar werden. Im Mittelpunkt seiner Analyse stehen immer „die Spannungen und Synergien zwischen Kapitalismus, Demokratie und Nationalmythos“. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Historiker demokratischen und rechtsstaatlichen Defiziten.

Das gilt für den Rechtsstatus von Heim- und Pflegekindern, den der fast vergessene Schriftsteller und Publizist Carl Albert Loosli (1877–1959) schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg kritisierte, an dem sich jedoch bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg nichts änderte. Vormundschaft hieß damals noch „Bevogtung“ und setzte Kinder und Jugendliche der informellen Leibeigenschaft aus, „verbunden mit Zwangsarbeit und Züchtigungsrecht“ durch die Pflegeeltern sowie der unkontrollierten Behörden- und Justizwillkür. Die letzten Reste der menschenrechtswidrigen Praktiken der „Administrativjustiz“ (Loosli) wurden in den 80er Jahren beseitigt.

Der russische ­Anarchist Michael Bakunin, der in der Schweiz Zuflucht fand und in Bern begraben ist, wollte alle Staaten zer­stören außer der Schweiz. Auch dafür finden sich in der Schweizer Geschichte Gründe, die sich auf Stabilität und Wohlstand reimen

Erst am 11. 4. 2013 entschuldigte sich die Justizministerin Simonetta Sommaruga „im Namen der Landesregierung und von ganzem Herzen“ bei den Heim- und Pflegekindern, zwangssterilisierten Frauen und nicht sesshaften Personen.

Verstörend ist auch der Umgang der politischen Eliten mit dem Recht. Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg wurde in Bern am Parlament vorbei regiert – mit Vollmachten, Notrecht und Dringlichkeitsbeschlüssen, was sich nur zum Teil aus der schwierigen historisch-­politisch-militärischen Lage rechtfertigen lässt. Recht und Verfassung wurden auch umgangen, als es in der jüngsten Finanzkrise darum ging, die Großbank UBS zu retten, deren Bilanzsumme achtmal größer ist als die gesamte Wertschöpfung des Landes.

Der russische Anarchist Michael Bakunin, der in der Schweiz Zuflucht fand und in Bern begraben ist, wollte alle Staaten zerstören außer der Schweiz. Auch dafür finden sich in der Schweizer Geschichte Gründe, die sich auf Stabilität und Wohlstand reimen. Im Unterschied zum selbstgerechten Umgang vieler Schweizer mit ihrer Geschichte legt Tanner den Finger auf die Schattenseiten dieser Geschichte und bietet so ein starkes Stück Aufklärung. Man kann dem Buch nur viel Erfolg wünschen.

Jakob Tanner: „Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert“. Verlag C.H. Beck, München 2015, 679 Seiten, 33,95 Euro

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