: Und dich kann es auch treffen
Kältehilfe Wie läuft jetzt im Winter der Alltag in einer Notunterkunft für Menschen ohne Wohnung ab? Ein subjektiver Blick von Claudia Tothfalussy, die seit drei Jahren Schichten in Notübernachtungen übernimmt
Von Claudia TothfalussyFotos Joanna Kosowska
Jeden Abend, eine viertel Stunde vor sieben, wartet Stefan bereits vor der Tür in der Seestraße 49. Ein älterer netter Herr, der sich kurz darauf auf den Weg macht, um unsere tägliche Obst- und Gemüsespende bei einem türkischen Lebensmittelmarkt um die Ecke abzuholen. Im Gegensatz zu manch anderen in der Unterkunft findet er sich nicht mit seinem Leben auf der Straße ab, sondern bemüht sich darum, eine Wohnung zu finden. Ich freue mich immer, ihm zu begegnen, und hoffe gleichzeitig, ihn eines Abends nicht mehr hier anzutreffen.
Stefans Schicksal ist nur eines von vielen, über die man nachdenkt, wenn man in der Kältehilfe tätig ist. Seit drei Jahren übernehme ich Schichten in Notübernachtungen, die stets einem festen Ablauf folgen: Einlass der Gäste, Essen zubereiten, Aufräumen, Gespräche und das Frühstück am Morgen vorbereiten. Während der Nachtruhe schlafen auch die MitarbeiterInnen, doch meist sind es nicht mehr als fünf Stunden. Die Gäste, über deren Lebenswege ich schreibe, erscheinen mit anderen oder nur mit ihren Vornamen, damit ihre Wohnungslosigkeit nicht weitere Benachteiligungen mit sich bringen.
Je länger die Kältehilfesaison andauert, desto stärker wird dadurch mein alltägliches Leben beeinflusst. Durch die Nachtschichten wird man erst am Nachmittag wieder richtig aktiv. Ich denke an Aufgaben, die ich noch erledigen müsste, lasse es dann aber doch bleiben, weil ich mir bis zum nächsten Dienst am Abend Schöneres für meine Freizeitgestaltung vorstellen kann. Mehr Mahnungen als sonst finden den Weg in meinen Briefkasten, wodurch ich langsam immer besser den Wohnungsverlust von Menschen nachvollziehen kann, die ihren Briefkasten einfach nicht mehr geöffnet haben – sei es aus Überforderung, Verdrängung oder Lethargie.
Manchmal werde ich gefragt, ob ich Angst auf der Arbeit habe. Nein, im Notfall kann man 112 wählen. Dafür gibt es andere innere Konflikte. Was nicht nur für mich der schwierigste Aspekt in der Kältehilfearbeit sein dürfte: Wenn alle Betten belegt sind, muss man Bedürftige wegschicken. Zwar suche ich nach anderen Übernachtungsmöglichkeiten, trotzdem ist es keine angenehme Aufgabe. Sehr problematisch sind psychisch schwerkranke Menschen, für die eine Notübernachtung nie ein geeigneter Ort sein kann.
Oft wird mir Bewunderung für meinen Einsatz in der Kältehilfe entgegengebracht, zu Unrecht. Die Arbeit macht mich zu keinem besseren Menschen. Jeden Tag sieht man auf den Straßen Menschen, die auf Beton schlafen. Ist die Not etwa nicht existent, wenn man am Problem vorbei läuft? Zudem profitiere ich bei vielen Schichten selbst: Lohn und Aufwandsentschädigung bezahlen meine Miete.
In der Notübernachtung Residenzstraße zu arbeiten, fühlt sich für mich ein bisschen wie nach Hause kommen an. Viele MitarbeiterInnen und Gäste kenne ich schon seit drei Jahren. Bei nur 20 vorhandenen Plätzen weiß man um die Angewohnheiten und Verhaltensweisen der Männer.
Bei Dariusz beispielsweise muss ich bei der Taschenkontrolle am Einlass etwas gründlicher als bei anderen vorgehen, weil irgendwo immer noch ein Flachmann steckt. Es ist ein bisschen wie ein Spiel, in dem es darum geht, wer erfolgreicher beim Alkoholschmuggel abschneidet. Die Mehrheit der Obdachlosen trinkt täglich größere Mengen, was dazu führt, dass fast alle Vorfälle in den Unterkünften darauf zurückzuführen sind: Stürze, Auseinandersetzungen, verbale Gewalt, mangelnde Hygiene und die meisten Hausverbote.
Es ist spannend, die Entwicklung der Gäste zu verfolgen. So wie bei Tomasso aus Italien. Seit drei Jahren kommt er zu uns. Anfangs konnte der 43-Jährige fast kein Wort Deutsch, heute stellt für ihn eine einfachere Konversation kein Problem mehr dar. Obwohl er gerne bei uns ist, fühlt er sich manchmal von den anderen Bewohnern nicht richtig akzeptiert: „Ich glaube nicht, dass ich besser als die anderen bin, aber ich bin anders, weil ich nie trinke, Drogen nehme oder rauche und regelmäßig dusche“, hat mir Tomasso erzählt. Nicht nur mit seinem Verhalten fällt Tomasso aus dem Rahmen, es ist vor allem der Grund seines Wohnortswechsels nach Deutschland: In Italien arbeitete er in einer Bar, bis er feststellte, dass diese wohl der Mafia gehört. Nach seiner sofortigen Kündigung verfolgte und beobachtete man ihn, woraufhin er sich als nächstes Ziel Berlin aussuchte.
Die Gründe, die Menschen vor unsere Tür bringen, sind so vielfältig wie die Persönlichkeiten selbst oder die Probleme, für die die Gesellschaft nicht genügend Auffangmöglichkeiten bereithält. Arbeitslosigkeit, Trennung, Trauer, Drogenabhängigkeit und Krankheit sind klassische Wege in die Wohnungslosigkeit. Oder manchmal eben die Mafia.
Die Berliner Kältehilfe ist ein in Deutschland einmaliges Programm, das 1989 von Kirchengemeinden und Wohlfahrtsverbänden und von der Senatsverwaltung ins Leben gerufen wurde. Zahlreiche Träger, das heißt verschiedene Kirchengemeinden, Verbände, Vereine und Initiativen, beteiligen sich jeweils mit eigenen Angeboten wie zum Beispiel Nachtcafés, Beratungsmöglichkeiten und Suppenküchen – diese werden vom Kältehilfetelefon koordiniert und aktualisiert. Die Berliner Stadtmission betreibt einen Kältebus, um Kältetote zu vermeiden.
In der Winterzeit 2015/16 stellt die Berliner Kältehilfe rund 600 Betten zur Verfügung. Weitere Informationen und alle Angebote finden sich unter www.kaeltehilfe-berlin.de.
Die beiden im Text vorgestellten Notübernachtungen befinden sich in Wedding. Die Caritas betreibt eine Unterkunft mit 20 Plätzen nur für Männer in der Residenzstraße 20. In der Seestraße 49 können seit diesem Jahr 59 Betten – darunter sechs Frauenschlafplätze – vergeben werden. Träger ist die Neue Chance gGmbH, eine Organisation der Sozial- und Jugendhilfe. (ct)
Für Tomasso ist die mangelnden Hygiene der anderen das Problem, mit dem er am schwierigsten zurechtkommt. In einem Schlafsaal mit 20 Betten breitet sich übler Gestank, zum Beispiel von auf der Heizung liegenden Socken, schnell aus.
Eine ganz andere Situation in der Seestraße: Im ehemaligen Sport- und Schulamt wird wie im Hotel übernachtet. Auf zwei Etagen in Zimmern von zwei bis sechs Betten, was mehr Ruhe für die Bewohner bedeutet. Vorausgesetzt, sie verstehen sich.
Es gibt Gäste, die fallen mir sofort auf. Lukas ist so ein Fall, weil er mit seinen 25 Jahren im Gegensatz zu den anderen sehr jung ist. Er erscheint immer sehr gepflegt und wirkt ausgeglichen. Lukas kommt aus Polen, übernachtet seit drei Jahren in der Notunterkunft und kam wegen eines Mädchens nach Berlin. Er hat mir erzählt, dass deren Eltern dagegen waren, dass er bei ihr wohnt und suchten deshalb im Internet nach einer Notübernachtung für ihn. Lukas hat noch ein Zimmer bei seinen Eltern, die denken, ihr Sohn würde in Deutschland arbeiten. Dabei war er sogar ein Jahr im Gefängnis, wozu vor allem Schwarzfahren beigetragen hat.
Lukas möchte ein besseres Leben und später eine Familie gründen, nur sieht er sich bei der Job -und Ausbildungssuche immer wieder mit unlösbaren Problemen konfrontiert. „Ich habe alle Papiere, einen Führerschein, aber immer ist irgendetwas und ich habe nicht viel gearbeitet im Leben, ich kenne mich nicht aus.“ Die größte Hürde dürften seine nicht vorhandenen Deutschkenntnisse sein, ein Problem, das er mit vielen Landsleuten teilt. Viele Betroffene könnten wieder zurück in ihre Heimat, sehen darin aber keine Perspektive.
Kotze im Flur
Für den Fall, dass sich eine Nachtschicht wieder einmal als besonders stressig erweist, verschafft es mir Erleichterung, mich mit meinen KollegInnen darüber auszutauschen. Dann erzählt jemand von einer noch viel schlimmeren Nacht mit noch mehr Streitereien, Krankenwageneinsätzen, Hausverboten und Kotze im Flur – und alles ist wieder schick. Das Team wird sowieso zu einer wichtigen sozialen Konstante.
Bis April eines jeden Jahres bemerken meine Freunde nicht viel von meiner Existenz, am Abend kann ich meist weder mit ins Kino noch auf die Party und meine häufigste Antwort auf alle Fragen lautet: „Sorry, keine Zeit.“ Trotz allem werde ich in der nächsten Saison wieder fragend an der Tür zur Notunterkunft sitzen: Können Sie bitte Ihre Tasche öffnen?
Ein Freund von mir behauptet, ich arbeite so gerne bei der Kältehilfe, weil ich es für keinen normalen Job früh aus dem Bett schaffen würde. Das stimmt nur bedingt. Ich mag diese Arbeit verdammt gerne, auch wenn es stressig wird, sich wieder jemand daneben benimmt oder ein Schlafdefizit droht. Es geht darum, einen menschenwürdigen Ort anzubieten. Alle sind willkommen, unabhängig davon, was sie tun oder lassen, solange es friedlich zugeht.
Alle Teammitglieder sind mit Herz und Seele dabei, sonst würde so eine Arbeit wohl keiner machen wollen. Meine Kollegin und gute Freundin Karin Schwarz hat selbst ihre allererste Nacht in Berlin in der Notübernachtung Franklinstraße verbracht, als sie kein Zimmer fand. Sie weiß, wie es ist, alles zu verlieren, packt überall mit an und begleitet manche Gäste bei Behördengängen.
In einer Notübernachtung zu arbeiten heißt nicht, dass man nicht auch von Wohnungslosigkeit bedroht sein kann. Letztes Jahr hat es mich getroffen, nachdem ein Zwischenmietverhältnis endete, fand ich keine neue Bleibe. Ich packte meine Sachen und schlief für ein paar Tage in den Räumlichkeiten des Vereins, in dem ich Mitglied bin, wenn ich nicht gerade in der Notübernachtung arbeitete. Eine Wohnungslose engagiert sich für Wohnungslose, das ist doch auch mal schön.
Wie viele andere in so einer Situation habe ich nicht im Freundeskreis nach Hilfe gesucht, sondern versucht, selbst klar zukommen. Aus Erfahrung kann ich sagen, was Wohnungslose am wenigsten brauchen: sie in eine Opferhaltung zu drängen. Ohne vier Wände lässt sich ebenso gut ein Alltag einrichten. Für manche bedeutet es, biertrinkend vor dem Supermarkt zu sitzen; Tomasso dagegen geht gerne in Bibliotheken oder erkundet die Stadt.
Klischees regen mich auf
Was mich bei meiner Arbeit immer mehr aufregt, sind die Klischeebilder in den Köpfen der Außenstehenden vom antriebslosen, passiven Wohnungslosen, der den ganzen Tag nur rumgammelt. Ein Großteil der Bewohner hat ihr Heimatland verlassen, um eine Arbeit zu finden, oder einen Neuanfang zu wagen, ein Schritt, den sich viele nie trauen werden.
Juri (30), zum Beispiel, der in Litauen höchstens 300 Euro im Monat verdienen würde, arbeitete in seiner Anfangsphase in Deutschland auf einer Baustelle und verletzte sich so schwer am Bein, dass er dieser Tätigkeit nicht mehr nachgehen kann. Seinen polnischen Freunden Jan (52) und Krzysztof (45) erging es ähnlich: Schwarzarbeit, nicht ausgezahlte Löhne, Schulden.
Auch das Vorurteil der fehlenden Körperhygiene steht immer im Raum. Jeden Abend fragt Tomasso nach einem frischen Handtuch und desinfiziert seine Kleidung. Damit ist er hygienischer als alle Menschen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Klar, man wird bei Wohnungslosen, die unter beschwerten Bedingungen leben immer größere Tendenzen der Verwahrlosung feststellen, aber das gilt eben nicht für alle. Genauso ist es ihr gutes Recht, so leben zu wollen, auf der Straße, selbstbestimmt, ohne Verpflichtungen – und einige verbreiten dabei stets gute Laune.
Ich habe mich gefragt, was die Gäste wohl am meisten an einer Notübernachtung stört und auf mangelnde Privatsphäre als Antwort getippt. Für einige mag das zutreffen, aber die meisten erzählen von einem Gewöhnungsprozess, der mit der Zeit einsetzt. Sie freuen sich einfach über ein sauberes, gemütliches Bett in der kalten Jahreszeit. Andere Dinge stören da mehr, zum Beispiel dass der Freund im Nachbarzimmer untergebracht ist.
Nationalitäten spielen im Alltag der Wohnungslosen eine große Rolle. In der Seestraße kommen etwa 85 Prozent der Übernachtenden aus Polen. Ein junger Mann aus Rumänien meinte neulich zu mir, er wäre am Ende ganz froh doch kein freies Bett mehr bekommen zu haben, weil das eventuell zu Problemen geführt hätte. Dafür beschweren sich die polnischen Klienten über Rumänen, die draußen in Gruppen den Straßenzeitungsverkauf der anderen behindern würden.
Wenn mich jemand nach einem Bett fragt, ist mir die Herkunft absolut unwichtig, allerdings bin ich auch schon an meine kommunikativen Grenzen gestoßen. Vor allem in einem angetrunkenen Zustand, versteht das Gegenüber meine Zeichensprache mitunter nicht. Am Ende haben es bis jetzt alle in ihr Bett geschafft, was schließlich die Hauptzielsetzung einer Notübernachtung ist. Und wenn sich die Saison dem Ende neigt, stellt sich die Frage, wo die Wohnungslosen in den warmen Monaten übernachten. Einige werden auf der Straße und in Parks nächtigen, andere finden über die Sommermonate eine Arbeit mit Unterkunft.
Tomasso hat noch nie eine Nacht auf der Straße verbracht, oft kommt er bei Freunden unter, sonst wählt er sich als Schlafplatz die öffentlichen Verkehrsmittel aus. Seine S-Bahn-Lieblingslinie ist Spandau–Ahrensfelde, weil er dort in der Vergangenheit viele Italiener getroffen hat und es so schön sauber ist. Ein Zuhause zu haben, das beginnt definitiv im Kopf.
Claudia Tothfalussy, 1985 in Freiberg geboren, arbeitet seit drei Jahren in der Notübernachtung Residenzstraße und seit November ehrenamtlich in der Notunterkunft Seestraße. Sie liest Geschichten auf Poetry Slams und Lesebühnen und studiert Regionalwissenschaften Asien/Afrika an der Humboldt-Universität.
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