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Die WahrheitDer Altar meines Lebens

Kolumne
von Eugen Egner

Eine Kirche. Irgendwo in Norditalien. Im düsteren Inneren brennen Kerzen. Und es wartet etwas entdeckt zu werden. Etwas Befremdliches …

E inst begleitete ich eine reiche alte Dame, die vor ihrem Tod noch einmal eine bestimmte Gegend in Norditalien aufsuchen wollte. Als ihr persönlicher Assistent kümmerte ich mich um alles Nötige, damit sie möglichst unbeschwert reisen konnte.

Bevor wir unser Ziel erreichten, irgendwo in den Alpen, fühlte sich die alte Dame unpässlich. Es war nichts Ernstes, nach ein paar Tagen der Ruhe würde sie sich erholt haben. Bis dahin bedurfte sie meiner kaum. Ich lief im Ort umher, saß im Café und besichtigte alle Sehenswürdigkeiten. Es gab auch eine Kirche, und obwohl ich für Kirchen nie etwas übrig gehabt hatte, ging ich aus Langeweile doch hin. Architektonisch machte der für eine so kleine Ortschaft reichlich große Sakralbau einen misslungenen Eindruck auf mich. Ich fand, er sah aus, als wäre eine ungelenke Kinderzeichnung die Vorlage für seine Errichtung gewesen.

Ein Flügel der Eingangstür stand offen, ich trat ein. Nur an wenigen Punkten des Innenraums brannten ein paar Kerzen, entsprechend schlecht konnte ich sehen. Es war vollkommen still. Außer mir schien sich kein Mensch in dieser Kirche aufzuhalten. Ich war kaum neugierig auf den Altar, im Gegenteil rechnete ich sogar damit, dass er sich als Enttäuschung erweisen würde, aber immerhin verging auf diese Weise die Zeit.

Als ich dann vor ihm stand, bemühte ich mich, ihn pflichtschuldigst zu betrachten, so gut dies bei dem herrschenden Lichtmangel nur möglich war. Wie man mir gesagt hatte, handelte es sich bei diesem Altar angeblich um ein bedeutendes Werk sakraler Holzbildhauerkunst. Er wirkte wie aus einem einzigen Stück nussbaumfarbenen Holzes geschnitzt. Seine Höhe schätzte ich auf gut drei Meter. Die Vorderfront war in Dutzende guckkastenartiger Nischen unterteilt, und jede einzelne enthielt kleine Figuren, Häuser und diverse Gegenstände teils recht befremdlicher Art. So entstand der Eindruck verwirrender Fülle.

Ich ging näher heran und betrachtete ein Bildfenster nach dem anderen. In typisch mittelalterlicher Manier waren darin Szenen dargestellt, die entgegen meiner Erwartung keinerlei religiösen Inhalt hatten, sondern ausschließlich Alltagssituationen wiederzugeben schienen. Ich begann mit denen in Augenhöhe befindlichen und arbeitete mich allmählich weiter nach unten vor. Bald hatte ich das irritierende Gefühl, was ich hier sah, sei mir eigentümlich vertraut – ohne mir allerdings erklären zu können, weshalb.

Dieser Altar war mir bislang völlig unbekannt gewesen. Meine Empfindung, trotzdem alles irgendwoher zu kennen, blieb so lange vage, bis ich bei einem für das Mittelalter stark anachronistisch wirkenden Tableau plötzlich begriff: Das war eine Szene aus meinem Leben! Sie zeigte, wie ich nach der 30. Fahrstunde aus dem Wagen stieg und den Unterricht abbrach.

Auch sämtliche anderen Darstellungen ließen sich nun als Stationen meiner Biografie identifizieren. Bevor ich jedoch zu den Szenen in der Zukunft kam, wandte ich mich ab und rannte aus der Kirche.

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