Syriza-Regierung in Griechenland: Das verflixte erste Jahr
Der Wahlsieg von Alexis Tsipras sollte ein Neubeginn sein. Was hat sich verändert? Wir haben vier Griechen begleitet.
Es ist schon kurz vor Mitternacht, als Alexis Tsipras in das rötliche Licht der Bühne tritt. Auf dem großen Platz vor der Athener Universität drängen sich Tausende Menschen. Der anschwellende Jubel trägt die Nachricht bis in die letzte Reihe: Jetzt spricht Tsipras.
„Heute haben die Griechen Geschichte geschrieben. Hoffnung hat Geschichte geschrieben“, sagt er.
So begann das Griechenlandjahr 2015 am 25. Januar. Synaspismos Rizospastikis Aristeras, – übersetzt: Koalition der radikalen Linken, kurz Syriza – gewinnt die Parlamentswahlen mit 36,5 Prozent der Stimmen. Am nächsten Tag legt der ehemalige Bauunternehmer Alexis Tsipras seinen Amtseid als Ministerpräsident ab. „Der Geisterfahrer. Europas Albtraum“, titelt der Spiegel kurz darauf. Es beginnt ein Jahr mit 17-stündigen Verhandlungen über Hilfspakete, mit Tagen, an denen in Athen kein Geld aus den Automaten kommt. Mit einer Volksabstimmung, einer Neuwahl.
Es war das Jahr, in dem Europa auf Griechenland schaute. Mit Besorgnis, mit Neugierde. Welchen Unterschied macht es, wer an der Macht ist? Was kann eine Regierung im Alltag verändern?
Arbeitslosigkeit: Noch immer sind etwa 25 Prozent der Griechen ohne Job. In etwa 350.000 Familien hat kein Mitglied eine Stelle. Das Arbeitslosengeld ist auf ein Jahr befristet.
Rente: Die europäischen Gläubiger fordern die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Aber Griechenland ist überaltert – die Hälfte der Bevölkerung ist nicht im erwerbsfähigen Alter. Die Durchschnittsrente beträgt etwa 900 Euro.
Fakelaki: Trotz Rückgang der Korruption werden Schätzungen zufolge immer noch 33 Milliarden Euro Schmiergelder im Jahr gezahlt.
Schulden: Das dritte Hilfsprogramm des europäischen Rettungsfonds ist auf drei Jahre angelegt, es läuft bis Sommer 2018. Insgesamt hat es ein Volumen von 86 Milliarden Euro. Damit werden jedoch vor allem alte Schulden bezahlt.
Wir haben vier Menschen in Athen durch dieses Jahr begleitet. Die Putzfrau Frosso Arvanitaki, den Arzt Stefanos Pappas, den Möbelverkäufer Thanassis Anagnostopoulos und die Abgeordnete Elena Psarrea.
Im Herbst wird einer von ihnen, der im Januar noch für Syriza um Stimmen kämpfte, seinen Wahlzettel mit einem Strich ungültig machen. Eine andere wird gegen die Partei auf die Straße gehen, für die sie zu Beginn des Jahres ins Parlament einzog. Eine Dritte wiederum bekommt auf Anweisung des Regierungschefs ihren Job zurück. Und einer, für den im Januar eine Katastrophe begann, wird froh sein, dass gegen Ende des Jahres langsam Ruhe einkehrt.
Winter
Die Putzfrau. Obwohl sie seit über einem Jahr keine Stelle mehr hat, kommt Frosso Arvanitaki fast jeden Tag an ihren alten Arbeitsplatz – das Finanzministerium, einen Betonklotz im Zentrum von Athen. Früher trat sie durch die Glastür. Heute steht sie vor dem Eingang an einem Tisch mit Flyern und Ansteckern. Im September 2013 wurde ihr und ihren Kolleginnen gekündigt. Eine günstigere private Firma sollte ihre Arbeit machen. Ein paar Tage später taten sich einige der Frauen zusammen. Plakate mit roten, zum Victoryzeichen geformten Putzhandschuhen kleben nun an den Ministeriumsmauern, sie wurden zum Symbol des Widerstands gegen die Sparpolitik.
Frosso Arvanitaki hat den Reißverschluss ihrer Winterjacke bis nach oben zugezogen. Sie ist 53 Jahre alt, ihre Augen hat sie mit schwarzem Kajalstift umrandet, in ihrem Nasenflügel glitzert ein winziges Piercing. „Tsipras wird uns helfen, unsere Jobs zurückzubekommen“, sagt sie. „Das hat er uns persönlich versprochen.“ Alexis Tsipras hatte die kämpfenden Putzfrauen vor der Wahl besucht, jeder einzelnen die Hand geschüttelt. „Ein guter Junge!“, sagt Arvanitaki.
Der Wahlabend bei ihr zu Hause wurde zu einer Party, Gläser klirrten: Stin ijiá mas – prost! Auf Syriza! Endlich Hoffnung.
Arvanitaki bekommt 300 Euro Arbeitslosenhilfe. Ihr Mann, der auf dem Busbahnhof gearbeitet hat, 1.000 Euro Rente. Diese wurde gerade um 300 Euro gekürzt. Ein Weißbrot kostet 80 Cent, ein Liter Milch 1,40 Euro, ein Kaffee in der Stadt 2 Euro. Vergangene Woche hat Arvanitaki sich bei einer privaten Reinigungsfirma vorgestellt. Die Empfangsdame musterte sie und sagte, nur schlanke Frauen unter 35 Jahren hätten hier eine Chance.
Der Möbelverkäufer. „Accept failure as part of the process“, steht auf Thanassis Anagnostopoulos’ T-Shirt. Scheitern gehört dazu. Er ist 37, ein kräftiger Typ mit Vollbart. In seinem Athener Möbelladen steht er zwischen Stehlampen, Korbstühlen und Polsterliegen.
„Ich bin ganz zuversichtlich“, sagt er. Anagnostopoulos ist Syriza-Mitglied. Mit anderen aus der Partei organisiert er Diskussionsforen und Konzerte.
Nach der Schule arbeitete Anagnostopoulos acht Jahre lang als Kellner, dann übernahm er das Möbelgeschäft seines Vaters. Drei Jahrzehnte hatte der Laden Gewinne gebracht. Dann kam die Wirtschaftskrise. Zwischen 2010 und 2012 halbierten sich die Einnahmen. Bis 2014 gingen sie noch einmal um 75 Prozent zurück. Möbel könnten die Leute entbehren, sagt Anagnostopoulos.
Thanassis Anagnostopoulos ist seit fast vier Jahren nicht mehr krankenversichert. Seine Frau arbeitet als Bankangestellte, so ist zumindest die gemeinsame dreijährige Tochter mitversichert. Das Geld reicht für das Nötigste: Strom, Benzin, Supermarkt.
„Ich glaube nicht, dass diese Regierung alles halten kann, was sie verspricht. Aber wenigstens etwas“, sagt er. Einen Gesetzentwurf konnte Syriza schon durchsetzen: Nicht gezahlte Steuern können in 100 Raten nachgezahlt werden, straffrei. Auch Anagnostopoulos macht davon Gebrauch.
„Plötzlich versuchen die Leute sich gegenüber dem Staat – der sonst immer der Feind war – korrekt zu verhalten, schreiben Rechnungen“, sagt er. „Sie versuchen, die Regierung zu unterstützen.“ Es sei ein Vertrauensvorschuss.
Frühling
Die Abgeordnete. Elena Psarrea schlängelt sich auf dem Bürgersteig zwischen Passanten und falsch geparkten Autos hindurch. Eine zierliche Frau, 32 Jahre alt, schmales Gesicht, Pagenschnitt. Sie ist auf dem Weg zu einem Treffen , um ein Haus für Frauenorganisationen zu gründen.
Elena Psarrea sitzt seit Januar im Parlament, sie ist Feministin, und gehört zum linken Flügel von Syriza. Sie kommt aus einer Antikriegsinitiative, einer der vielen Bewegungen, aus denen Syriza 2012 hervorging. Früher gab Psarrea Unterricht für Migranten, jetzt hat sie ein Büro in der Nähe des Parlaments. Zwei Assistenten werden bezahlt, ein Freund arbeitet ehrenamtlich.
Ende Januar hatte Finanzminister Gianis Varoufakis der Troika die Zusammenarbeit aufgekündigt. Das Hilfsprogramm für Griechenland läuft aus. Die griechische Regierung verhandelt jetzt. Heute hat Tsipras fünf Stunden mit Psarrea und den anderen Abgeordneten über die Verhandlungen gesprochen. Um die Gespräche mit den Gläubigern nicht zu gefährden, bleiben die Vorschläge weitgehend geheim. Besprochen wird nur die Strategie.
Elena Psarrea geht vorbei an Wänden voller Graffiti und Plakate für Konzerte und Politversammlungen. Am Eingang des Theaters, in dem die Veranstaltung beginnt, wird sie von vielen begrüßt. Die Feministinnen haben jetzt eine Abgeordnete. Geschlechtergerechtigkeit hat es als Thema allerdings schwer. Von 41 Ministern und Vizeministern sind nur sechs Frauen.
Der Möbelverkäufer. Thanassis Anagnostopoulos lehnt an der Eingangstür seines Geschäfts und zieht kräftig an seiner selbst gedrehten Zigarette. Es laufen wieder mehr Geschäfte schwarz, ist ihm aufgefallen. Von wegen Steuern zahlen, die Regierung unterstützen. Die Zeiten sind eben weiter hart. Es komme jetzt auf die Verhandlungen an.
Zugeständnisse an die Gläubiger könnte er nicht akzeptieren sagt Anagnostopoulos. „Dann trete ich aus der Partei aus.“ Er schnippt den Zigarettenstummel auf die Straße.
Der Arzt. Stefanos Pappas kommt im OP-Kittel in sein Büro im Krankenhaus gerannt. „Entschuldigung! Ich musste noch einen Kaiserschnitt machen“, sagt er und eilt weiter. „Kaffee? Tee? Wasser? Ja? Nein?“ Schon läuft er zur Cafeteria. „Die Lage wird sich verschlimmern“, sagt er. Die Situation in der Klinik? Die Politik? Bevor er antworten kann, kommt ein Mann und drückt seine Hand. „Wie geht es dem Baby?“, fragt Pappas.
Pappas ist 57 Jahre alt, er trägt eine Brille, die er manchmal auf seine Glatze schiebt. Er ist Frauenarzt. Nach dem Studium war er in England und Italien. Er kam zurück. „Ich habe Grundstücke hier, ich habe mein Leben, ein gutes Leben“, sagt er.
Pappas hat mehrere Jobs. In einem staatlichen Gesundheitszentrum kümmert er sich um HIV-positive Schwangere. An anderen Tagen betreut er Geburten in öffentlichen Krankenhäusern. Jeden Abend empfängt er auch Patienten in seiner Privatpraxis. Das sind 18 Stunden Arbeit am Tag, sagt er.
Die politische Entwicklung verfolgt Pappas mit Sorge. Bis zum Frühling mussten die Patienten in Krankenhäusern 5 Euro Praxisgebühr zahlen. Nun wurde sie gestrichen. Weil Geld fehle, werde jetzt alles in letzter Minute bestellt, selbst Schutzhandschuhe oder Fäden zum Nähen. „Wer gute Ärzte will, muss dafür zahlen“, sagt er. Ein Vollzeitjob in einem Krankenhaus bringe ihm etwa 1.600 Euro pro Monat. In England könne er 7.000 Euro verdienen.
Die Regierung müsse sich entscheiden: Kommunismus oder Kapitalismus. „Die griechische Gesellschaft ist kapitalistisch. Sie hat dem Staat nie getraut.“ Er plädiert für den freien Markt. Für Privatisierung einiger Krankenhäuser. Hier könnten Patienten für bessere Bedingungen mehr zahlen. Ganz offiziell. Wenn jemand eine bessere Behandlung will, läuft das schon heute gegen Bezahlung: mit Schmiergeld, fakelaki. Bei einer Geburt etwa können es bis zu 1.500 Euro sein.
Die Abgeordnete. „Es ist die Zeit der Wahrheit für Syriza“, steht auf dem Plakat. Der Konferenzraum im Haus des Athener Journalistenverbandes ist überfüllt, Leute drücken sich an die holzgetäfelten Wände. Elena Psarrea steht im Gedränge.
Am Morgen hat sie die Reformvorschlägen des EU-Kommissionspräsidenten in der Zeitung gelesen. „Ich glaube, dass wir uns einem Abkommen nähern”, sagt sie. Schon seit einiger Zeit gibt es Kritik an Tsipras: Er treffe mehr und mehr Entscheidungen mit einem kleinen Kreis von Beratern.
Auf der Bühne sitzen vier Politiker des Zentralkomitees von Syriza. „Wir müssen aufhören, die Schulden zurückzuzahlen“, sagt einer der Redner. Applaus. „Wir müssen über einen Plan B nachdenken, falls wir aus der Eurozone austreten”, fordert eine andere. Noch mehr Applaus. Auch Elena Psarrea klatscht.
Sommer
Die Putzfrau. Seit Mai tritt Frosso Arvanitaki wieder durch die Glastür des Finanzministeriums. 600 Euro bekommt sie nun für eine volle Stelle. Weniger als vor der Entlassung.
Zur Wiedereinstellung gab es eine kleine Party. Arvanitaki war nicht nach feiern. Sie hat zwei erwachsene Kinder, die beide seit längerer Zeit arbeitslos sind.
Ihr Sohn schlägt sich seit Monaten ohne Vertrag als Sicherheitsmann durch. Er bekommt im Monat 320 Euro. Arvanitakis Tochter wohnt mit einer Freundin in einer WG, ihre Mitbewohnerin zahle die Miete allein, wenn es nicht anders gehe, und spendiere auch mal den Einkauf. „Die Kinder der Krise haben von uns gelernt, das Solidarität heute das Wichtigste ist“, sagt Arvanitaki.
Arvanitakis Mann ist in der Zwischenzeit an Krebs erkrankt. Die Versicherung verschreibe ihm zwar die teuren Untersuchungen wie Kernspintomografie, aber die Wartelisten in den staatlichen Krankenhäusern sind lang. „Da wird man erst nach dem Tod untersucht“, sagt sie und lacht bitter.
Um sich eine Privatklinik leisten zu können, haben sie vor Monaten aufgehört das Darlehen für ihre Wohnung zurückzuzahlen. Bisher hat sich die Bank nicht gemeldet.
Der Arzt. Es ist halb zehn an einem Juniabend, und im Wartezimmer von Stefanos Pappas’ Praxis sitzen noch sieben Leute. Pappas kommt herein, er bittet den nächsten Patienten zu sich. An den Wänden hängen orthodoxe Ikonen neben seinen Diplomurkunden.
„Wenn ich es schaffe, um zehn fertig zu sein, dann ist es ein guter Tag”, sagt er. Es wird elf werden heute. Zeit zu essen.
Bei einem Italiener stellt ein Kellner am Ende der Terrasse einen Tisch für ihn auf. Pappas winkt einer Frau zu. Dora Bakogianni war Außenministerin und ist jetzt Abgeordnete der Konservativen. Man kennt sich: dieselben Restaurants, die Kinder auf denselben Schulen.
Als er gerade mit Bakogiannis Mann spricht, hüpft ihm ein Mädchen in die Arme: „Papa!“ Seine zehnjährige Tochter fährt morgen nach England: zwei Wochen Sprachunterricht. „Es wird noch acht bis zehn Jahre dauern, ehe wir diese Krise hinter uns haben“, sagt Pappas. Er will die besten Chancen für seine Tochter.
Seit einigen Tagen sind die Spannungen geradezu greifbar. Am Tag zuvor hat der Internationale Währungsfonds vorgeschlagen, die Mehrwertsteuer auf bis zu 23 Prozent zu erhöhen. In der Nacht haben sich die Verhandlungsführer wieder ohne Ergebnis getrennt. Heute treffen sie sich wieder, seit Wochen geht es so. „Schlimm“, sagt Stefanos Pappas und stochert mit der Gabel in seinem Lachstartar.
Die Abgeordnete. Es ist der 16. Juli, gestern hat das Parlament über die Einigung mit den Gläubigern abgestimmt – das dritte Memorandum ist auf dem Weg. Von den 149 Syriza-Abgeordneten haben 32 dagegen gestimmt, unter ihnen Elena Psarrea. Sie sitzt in einer Bar und kann zum ersten Mal ihre Empörung nicht verstecken. „Es war schrecklich. Wir hatten keine Zeit, über den Inhalt zu sprechen.“
Ende Juni hatte Tsipras nach einer Kabinettssitzung eine Fernsehansprache gehalten, es war mitten in der Nacht. Links von ihm die Griechenlandflagge, rechts die der EU. Er kündigte ein Referendum über das neue Sparprogramm an und bat darum, die Kredite wenige Tage zu verlängern, damit das griechische Volk ohne Druck entscheiden könne. Schon in der Nacht bildeten sich Schlangen vor den Geldautomaten. Am Tag darauf lehnten die Eurofinanzminister eine Verlängerung des Rettungsprogramms ab.
Regierungschef Tsipras warb für eine Ablehnung der Sparpläne. Fast 30.000 demonstrierten in Athens Straßen für das Nein, 20.000 Ja-Anhänger kamen zum alten Olympiastadion zusammen. 61 Prozent der Griechen stimmten dann gegen das Sparprogramm.
Nur eine Woche später kam Alexis Tsipras aus einer 17-stündigen Sitzung mit seinen europäischen Amtskollegen und hielt dennoch ein Abkommen in der Hand. Das hat das Parlament nun gebilligt.
Psarrea ist eine der beiden Abgeordneten, die einen Aufstand innerhalb der Syriza begonnen haben. „Es gibt noch andere Möglichkeiten“, sagt sie. Sie ist dafür, die Banken zu verstaatlichen.
Sie weiß nicht, wie es weitergehen wird mit der Partei. Heute hat sie sich wieder den ganzen Tag mit Leuten aus dem linken Flügel getroffen. Um noch irgendwas zu ändern.
Herbst
Der Möbelverkäufer. Als Thanassis Anagnostopoulos in der Nacht nach dem Referendum auf dem Syntagmaplatz mit vielen anderen das Nein feierte, spürte er noch einmal Zuversicht. Menschen hielten sich in den Armen, tanzten.
Jetzt ist jede Euphorie verschwunden. „Die Regierung ist sehr weit von dem abgekommen, was sie nach der Regierungsübername verkündet hat“, sagt Anagnostopoulos.
Er ist aus der Partei ausgetreten. Bei den Neuwahlen im September, die Tsipras durch seinen Rücktritt erzwungen hat, hat er ungültig gewählt. „Ich habe einen Strich über den Wahlzettel gezogen, denn ich fühle mich durch keine der Parteien vertreten“, sagt er. Vor Kurzem hat er sich zum Gitarrenunterricht angemeldet. „Ich gebe lieber 10 Euro für zwei Gitarrenstunden aus, als für die Banken zu sparen.“
Die Putzfrau. Frosso Arvanitaki steht mit einem Kaffeebecher vor dem Finanzministerium, macht kurz Pause. Während der Proteste hatte ein Café um die Ecke einen Rabatt für die kämpfenden Putzfrauen eingeführt: Kaffee für 1 Euro. Der Preis gilt immer noch. Ihre Liebe zu Syriza ist verflogen.
Erst wollte Arvanitaki gar nicht zur Wahl gehen. Letztendlich habe sie doch noch einmal für Syriza gestimmt, „das weniger Schlechte vom Schlechten“. Sie hofft, dass Syriza zumindest einige Versprechen erfüllen kann, wenn sie mehr Zeit bekommt.
Arvanitaki nimmt schnell den letzten Schluck und wirft den Becher in den Mülleimer. Dann verschwindet sie hinter der Glastür.
Der Arzt. Stefanos Pappas kommt rennend in seinem Büro an. Es ist elf Uhr morgens an einem Freitag im Oktober, die blinkende Anzeigetafel im Empfangsraum des Krankenhauses zeigt, wie viele Patienten heute schon hier waren: 200.
Pappas ist froh, dass die Vernunft langsam nach Athen zurückkehrt. Endlich eine Einigung mit den Gläubigern. Für ihn sind der Tsipras heute und der aus dem Januar zwei verschiedene Politiker. Papandréou, der ehemalige Premierminister der sozialdemokratischen Partei Pasok, habe auch einst links angefangen und sei immer mehr ins Zentrum gerückt. „Das Gleiche passiert jetzt.“
Stefanos Pappas freut sich darüber, dass im Parlament wieder Ruhe ist. Die Opposition ist schwach, Entscheidungen werden schnell durchgepeitscht. Aber Pappas bleibt ungeduldig. „Tsipras muss sich beeilen.“
Sein Telefon klingelt wieder. „Ich komme ja, ich komme.“ Kaiserschnitt.
Die Abgeordnete. Seit der Neuwahl im September sitzt Elena Psarrea nicht mehr im Parlament. Sie ist jetzt arbeitslos, aber immer noch Politikerin. An diesem Novembertag wird das erste Mal seit der Neuwahl wieder zum Generalstreik aufgerufen, im Zentrum Athens sind Schulen und Museen geschlossen. Züge stehen still. Krankenhäuser nehmen nur Notfälle auf.
Auf dem Banner neben Elena Psarrea steht: „Nein zu den Kürzungen“. Daneben ist eine schwarz-weiße Faust. Es ist das Symbol der Laiki Enotita, der Volkseinheit, Psarreas neuer Partei. Bei der Wahl scheiterten sie an der Dreiprozenthürde.
Für sie war es der größte Fehler von Tsipras, einen Mittelweg zu suchen: „Er versuchte, die Schulden zurückzuzahlen und gleichzeitig unser Wahlprogramm umzusetzen. Aber ab irgendwann hat er aufgehört, unser Programm zu respektieren.“ Ihre Stimme wird von den Rufen der Demonstranten übertönt, 20.000 sind es inzwischen. „Nieder mit den Memoranden!“, rufen sie.
Die Putzfrau. Der 2. Dezember ist ein warmer Tag, fast 20 Grad wird es mittags in Athen. Frosso Arvanitaki geht heute nicht zur Arbeit ins Finanzministerium. Die Gewerkschaften haben zum Generalstreik aufgerufen, dem zweiten innerhalb von drei Wochen. Wenn Arvanitaki ihr Fehlen als Streiktag angemeldet hätte, würde sie für die weggefallenen Arbeitsstunden nicht bezahlt. Das kann sie sich nicht leisten. Frosso Arvanitaki ist heute krank.
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